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12. Dezember 2022
Ernst Fischer hat Antiquariatsgeschichte geschrieben. 2011 erschien sein biographisches Handbuch »Verleger, Buchhändler und Antiquare aus Deutschland und Österreich in der Emigration seit 1933«, herausgegeben vom Verband Deutscher Antiquare. Nun erhielt er 2022 den 2nd ILAB Breslauer Prize for Bibliography für seine umfassende Studie über den»Exilbuchhandel 1933–1945«. Grund genug für die beiden Antiquarinnen Sibylle Wieduwilt und Barbara van Benthem nach Wien zu reisen und den Buchwissenschaftler zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Branche zu befragen.
Für Ihr dreibändiges Werk über den »Exilbuchhandel 1933–1945« (de Gruyter) haben Sie den 2nd ILAB Breslauer Prize for Bibliography gewonnen. Wie kam es zu dieser beeindruckenden Arbeit?
Das Werk ist Teil des groß angelegten Projekts »Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert«, das von der Historischen Kommission des Börsenvereins des deutschen Buchhandels auf den Weg gebracht wurde; bisher sind – vom Kaiserreich bis zur DDR – vier Bände in elf Teilbänden erschienen. Schon am Beginn der 1990er Jahre bin ich von der Kommission mit der Darstellung des Exilbuchhandels beauftragt worden, war also drei Jahrzehnte lang mit dem Thema befasst. In gewisser Weise ist es – nicht zuletzt durch zahlreiche Begegnungen mit emigrierten Verlegern, Buchhändlern und Antiquaren – zu meinem Lebensthema geworden.
Das Buch leistet einen zentralen Beitrag zur Erforschung des Antiquariatsbuchhandels in der Zeit des Nationalsozialismus. Welches Fazit ziehen Sie aus Ihrer Arbeit?
Der Antiquariatsbuchhandel zählt sicherlich zu den besonders faszinierenden Kapiteln des Exilthemas, schon aufgrund der abenteuerlichen Karrieren, die einer ganzen Reihe von aus Deutschland und Österreich vertriebenen Antiquaren in der Fremde gelungen ist. An seinem Beispiel wird das für mich verblüffendste Forschungsergebnis am besten sichtbar: Die aus dem Dritten Reich vertriebenen Verleger, Buchhändler und Antiquare haben die Welt des Buches in bemerkenswerter Weise verändert. Durch ihre energisch betriebene Neuetablierung entstanden überall neue Ankerpunkte der Buchkultur, wurde der Im- und Export von Büchern stimuliert, der Lizenzhandel durch Gründung von Agenturen gefördert, transkontinentale Verlagsstrukturen errichtet. Die weitgespannten Aktivitäten der Breslauers und Rosenthals und mancher anderer international agierender Antiquare sind der anschaulichste Beleg für diese Entwicklung. Statt der zu erwartenden und von den NS-Machthabern auch intendierten Vereinzelung und Isolation bewirkte die Vertreibung ins Ausland einen deutlich höheren Grad an globaler Vernetzung – ein paradoxer Effekt!
Können Sie uns eine oder zwei Biographien aus Ihrem Buch nacherzählen, die Sie für exemplarisch halten?
Der Supplementband, das biographische Handbuch mit rund 900 Kurzbiografien, zeigt als Einbandillustration Fotos von zwei Persönlichkeiten in völlig unterschiedlichem Ambiente: den fein gekleideten H. P. Kraus in seinem repräsentativ eingerichteten Antiquariat in Manhattan, in einem kostbaren Buch blätternd, und den kurzbehosten Richard Loewy in seinem »book stand« in einem Durchgang in der Tel-Aviver Allenby Street, auf Laufkundschaft wartend. In dieser Gegenüberstellung des aus Wien vertriebenen und in den USA zum international agierenden Groß-Antiquar aufgestiegenen Kraus mit dem aus Frankfurt stammenden, im mit (Emigranten-)Büchern hoffnungslos überfüllten Palästina sein Leben fristenden Straßenverkäufer Loewy wird die Spannweite der Exilschicksale augenfällig.
Ihr Buch gilt als Meilenstein, weil es eine der ersten großen Arbeiten zum Thema darstellt. Warum blieb die Geschichte des Antiquariatsbuchhandels in der Zeit des Nationalsozialismus bislang so wenig erforscht?
Auf die Geschichte des Antiquariatsbuchhandels im nationalsozialistischen Deutschland wird Reinhard Wittmann in einem im Frühjahr 2023 erscheinenden Teilband erstmals helleres Licht werfen. Die Auseinandersetzung mit diesem Thema steht vor besonderen Schwierigkeiten: Antiquare neigen nicht dazu, Geschäftsarchive anzulegen, weil sie ihren Beruf grundsätzlich sehr diskret ausüben; es mangelt daher an Originalquellen. Die NS-Zeit ist naturgemäß besonders heikel, weil zwar manche Antiquare ihren jüdischen Kollegen bei der Flucht durch Ankauf von Beständen geholfen haben, nicht wenige aber von diesen Vertreibungsvorgängen profitiert haben. Entsprechend gering war in dieser Sparte die Neigung, diese dunklen Zeiten aufzurühren.
Woran arbeiten Sie derzeit? Gibt es ein Nachfolgeprojekt?
Das Thema »Buchhandel im Exil« ist für mich abgeschlossen; ich habe in den drei Bänden und in noch anderen Publikationen alles mitgeteilt, was ich dazu in Erfahrung bringen konnte. Es gibt aber noch genug zu tun, nur möge hier eine jüngere Generation ans Werk gehen – was sie durchaus auch tut, wenn ich etwa an die überaus aufschlussreichen Forschungsarbeiten von Caroline Jessen denke. Ich selbst möchte mich in Zukunft ausschließlich mit Aspekten des Büchersammelns befassen.
Antiquariatsbuchhandel und Buchwissenschaft – wo liegen die Unterschiede, wo die Schnittmengen?
Ich selbst betrachte die Tätigkeit des Antiquars als »angewandte Buchwissenschaft«. Dass die dahinterstehenden – hier ökonomischen, dort rein wissenschaftlichen – Interessen unterschiedlich sind, ändert nichts daran, dass sich hier sehr beträchtliche Schnittmengen namentlich in der Erforschung des historischen Büchererbes ergeben. Ich finde es bedauerlich, dass die Zusammenarbeit nicht noch eine engere ist; hier gibt es sicherlich noch »Luft nach oben«.
Sollte man Buchwissenschaften studieren, um Antiquar*in zu werden?
Ich würde das unbedingt empfehlen, denn so wie ich es von der Mainzer Buchwissenschaft her kenne, kann man sich (auch durch kluge Wahl von Ergänzungsfächern) einen geeigneten Weg durch die Studienmodule bahnen und so ein überzeugendes Qualifikationsprofil erwerben. Unabdingbar bleibt aber daneben die Absolvierung möglichst vieler Praktika, was am leichtesten in Buchauktionshäusern durchführbar erscheint. Vielleicht könnten aber auch Ladenantiquariate mehr als bisher Möglichkeiten zum studienbegleitenden Jobben anbieten; eine kurze E-Mail an die Institutssekretariate in Mainz, München, Erlangen oder Münster würde genügen.
Über Ihre Lehrtätigkeit und als Mitglied der Jury des Preises für junge Sammler*innen den der VDA seit 2020 vergibt, kennen Sie viele junge Buchinteressierte. Sammeln junge Leute anders als Ältere? Wie kommt man in Kontakt?
Den Preis für junge Sammler/innen sehe ich insgesamt als einen großen Erfolg an, zumal er tatsächlich wichtige Einblicke in die Sammelmotive und -praktiken einer jüngeren Generation gewährt. Es gibt da Kontinuitäten, aber auch Unterschiede. Die Neigung, sich einer Bibliophilenvereinigung anzuschließen, ist nicht sehr ausgeprägt; vielleicht fehlt es aber auch an geeigneten (Social Media-) Kommunikationsangeboten. Wie kommt man unter diesen Umständen in Kontakt? Abgesehen von den Studierenden der Buchwissenschaft gibt es bemerkenswert viele junge Menschen, die sich für Buchgestaltung und Typographie interessieren – diese buchaffinen Gruppen sollte man gezielter als bisher ansprechen.
Sie sind Vorsitzender der Wiener Bibliophilen-Gesellschaft. Welche Aktivitäten planen Sie für das kommende Jahr?
In der Wiener Bibliophilen-Gesellschaft werden wir unsere drei bewährten Programmschienen weiterverfolgen: Gemeinsames Aufspüren verborgener Bücherschätze in Bibliotheken und Sammlungen in bzw. rund um Wien; Vorträge und Diskussionen zu unterschiedlichen Aspekten des Büchersammelns; periodische »Treffen für Buchliebhaber« mit Vorstellung mitgebrachter Buch-Besonderheiten. Selbstverständlich erhalten unsere Mitglieder auch 2023 wieder eine schöne Jahresgabe.
Welche Rolle spielen bibliophile Gesellschaften für die Kultur des Sammelns?
Sammeln ist in hohem Maße auf Individualismus abgestellt. Gleichzeitig gibt es in der Sammlerschaft ein latentes Bedürfnis nach Austausch mit Gleichgesinnten, nach gemeinsamen Erlebnissen rund ums Buch, nach Horizonterweiterung – ein Bedürfnis, auf das bibliophile Gesellschaften eine Antwort geben können. Vielleicht gelingt dies örtlichen Vereinigungen besser als den überregionalen, und im Ausland derzeit besser als im deutschsprachigen Raum. Man sollte aber den Blick nach vorne richten und jede Anstrengung unternehmen, die das zarte Pflänzchen »Bücherliebe« wieder zum Blühen bringen könnte.
Welches Buch sollte ein Sammler auf jeden Fall gelesen haben?
Wie jeder andere Mensch auch: Melvilles »Moby Dick«. Zudem ist es eine Parabel auf das Thema Besessenheit, wie sie dem leidenschaftlichen Büchersammler nicht unbekannt sein dürfte …
Was tun Sie, wenn kein Buch in Ihrer Nähe ist?
Kein Problem; die Welt hat außer Büchern auch noch anderes zu bieten!
ZUR PERSON
Ernst Fischer, Dr. phil., Univ.-Prof., geboren 1951 in Wien. Studium der Germanistik und Philosophie an der Universität Wien, Promotion 1978. Seit 1979 am Institut für Deutsche Philologie der Ludwig-Maximilians-Universität München tätig, Habilitation 1989; 1989–1993 Universitätsdozent in München. Von 1993 bis 2014 Professor für Buchwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Zahlreiche Publikationen zur Literatur-, Buchhandels- und Mediengeschichte des 18.-20.Jahrhunderts, besonders zum Verlagswesen und Buchhandel im deutschsprachigen Exil 1933-1945. Mitglied der Historischen Kommission des Börsenvereins des deutschen Buchhandels; seit 2018 Vorsitzender der Wiener Bibliophilen-Gesellschaft.
Geschäftsstelle: Norbert Munsch
Seeblick 1, 56459 Elbingen
Fon +49 (0)6435 909147
Fax +49 (0)6435 909148
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