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Es war einmal eine Gruppe von 30 Bibliophilen und Antiquaren aus Deutschland, den Niederlanden, Österreich und der Schweiz, die sich zum 52. Seminar der Antiquare trafen.
Dieses Jahr fand es in der Documenta-Stadt Kassel, wie sie nicht müde zu betonen wird, statt. Doch ist Antiquaren die Vergangenheit bisweilen näher als das Jetzt, und so wandten wir den Blick auf das glanzvolle historische Cassel, Wirkungsstätte eines einflussreichen Romantikerkreises um Jacob und Wilhelm Grimm, und dessen pittoreskes Umland: Corvey mit der ehemaligen Benediktinerabtei, das Barockschloss in Bad Arolsen und Paderborn mit einem Besuch der Erzbischöflichen Akademischen Bibliothek. In der Grimmwelt begann unser Seminar und fand seinen Ausklang bei der Brüder Grimm-Gesellschaft, wodurch sich der Kreis unserer Zusammenkunft schloss.
9. Mai
Wir alle trafen in dem Café der Grimmwelt mit Ausblick auf die Stadt zusammen und tauchten anschließend mit Hilfe eines Guides in die Welt der berühmten Brüder ein. Von etlichen Ausgaben der Hausmärchen bis zu Plastiktannen und Lebkuchenhäuschen war der weitreichende Einfluss Jacob (1785–1863) und Wilhelm Grimms (1786–1859) spürbar. Die Ausstellung zeichnet sich insbesondere durch zahlreiche Hands-On-Objekte und interaktive Mitmachstationen aus.
10. Mai
Der erste Programmpunkt dieses Tages war ein Besuch der Kasseler Landesbibliothekund Murhardschen Bibliothek, begleitet von einem dichten Programm: Wir lauschten vier Fachreferaten, beginnend mit Dr. Brigitte Pfeil, die uns die Schätze aus 1500 Jahren der Universitätsbibliothek näher brachte. Als das kostbarste und wichtigste ist das Hildebrandslied, (geschrieben ca. 830/840; Signatur: 2° Ms. theol. 54) zu nennen, das älteste überlieferte germanische Heldenlied: ein Fragment, welches den tragischen Zweikampf zwischen Hildebrand und seinem Sohn Hadubrand, eine Episode aus den Sagen um Dietrich von Bern, schildert. Ferner ging Frau Dr. Pfeil auf die bewegte Geschichte des Hauses ein: Als eine der ersten deutschen Bibliotheken wurde sie Ziel von Luftangriffen 1941, wodurch ein Großteil des Bestandes den Flammen zum Opfer fiel. Angesichts dieses ersten Angriffs bekamen viele andere Bibliotheken den Denkanstoß, ihre wertvollsten Objekte vorsorglich auszulagern. Im Anschluss folgte ein Vortrag Dr. Timo Kirschbergers, der die landesbibliothekarischen Aufgaben erörterte und uns tiefere Einblicke in die vielfältigen Verantwortlichkeiten, Tätigkeiten, auch Herausforderungen der Bibliothek gewährte. Die Bibliothek sei u.a. verpflichtet zu sammeln und zu bewahren, was jeglichen Hessen-Bezug zur Stadtgeschichte und der Region Kassel aufweist. Auch landesgeschichtliche Dokumente und sogar Geschäftsberichte lokaler Unternehmen würden sorgsam archiviert. So erfuhren wir u. a. von der sogenannten E-Pflicht, einer besonderen Bestimmung des hessischen Bibliotheksgesetzes, die Verlage verpflichtet, ein Exemplar ihrer Publikationen an eine der Landesbibliotheken abzuliefern, welche diese bewahren. Der folgende Vortrag widmete sich dem Historischen Kartenbestand der Bibliothek und dem fortwährenden Prozess seiner Erschließung, mit all den Herausforderungen, die sie in der Handhabung der verschiedenen Formate und Aufbewahrungsarten (gerollt, gefaltet, gebunden, gerahmt) mit sich bringt. Die genaue Bestandszahl ist gegenwärtig noch nicht zu benennen, doch scheint sie die ursprünglichen Erwartungen weit zu übertreffen, sodass Karten ohne Hessen-Bezug »makuliert« werden müssten, was ein allgemeines Unbehagen und empörtes Raunen unter den Anwesenden auslöste. Beruhigend wurde uns jedoch versichert, dass bislang noch keine Karten dem Altpapier anheimgefallen seien – allgemeines Aufatmen in der Runde. Der letzte Vortrag führte uns in das ORKA-Portal (Open Repository Kassel) der Universitätsbibliothek ein, eine Online-Plattform, die ihre digitalisierten Handschriften, Nachlässe, Fotos, Musikalien, Zeitschriften, Monografien und Karten zur kostenfreien Benutzung bereitstellt. Zudem wurde das Modell der Citizen Science vorgestellt – eine partizipative Methode, die es Laien erlaubt, aktiv an wissenschaftlichen Projekten mitzuwirken, und das bereits erfolgreich für die Transkription der Digitalisate Anwendung findet. Im weiteren Verlauf wurden wir eingeladen, unsere Fertigkeiten im Dechiffrieren von Handschriften und Kurrentschrift anhand von Grimm‘schen Briefen und anderen Autographen in Zweiergruppen an Laptops zu erproben.
Ein nachmittäglicher Ausflug führte uns nach Bad Arolsen, einer Kleinstadt im nordhessischen Landkreis Waldeck-Frankenberg. Im barocken Residenzschloss, dessen Westflügel die Sammlung des Schweizer Bibliomanen Adolf Brehm (1927–2022) beherbergt, wurden wir Zeugen seiner eindrücklichen Sammlung, die aus Jahrzehnten akribischer Sammelleidenschaft und einem Hauch Exzentrik hervorgegangen ist. Einige Antiquare erkannten in diesen deckenhohen Bücherregalen sogar ihre eigenen »Kinder« wieder, die sie einst Brehm verkauft hatten, was zu einem nostalgischen Austausch und Erinnerungen an Verkaufsgespräche und Begegnungen mit dem Bibliophilen führte. Prof. Dr. Jürgen Wolf führte uns in einem kurzweiligen und erbaulichen Vortrag durch die private Fürstliche Waldecksche Hofbibliothek des Schlosses. Diese umfangreiche Sammlung wird von wenigen engagierten Mitarbeitenden – pensioniert oder ehrenamtlich tätig – mit Leidenschaft betreut und gehegt. Die Bibliothek umfasst etwa 450 Handschriften, darunter viele mittelalterliche Klosterhandschriften, deren ältesten Exemplare aus dem 12. Jahrhundert stammen. Auf dem Fundament eines ehemaligen Klosters errichtet, umfasst das Schloss außerdem rund 35.000 Bände und zigtausende Karten.
11. Mai
Am Samstag fuhren wir in das ehemalige Kloster und heutige Schloss Corvey und wurden dort durch einen Teil des Anwesens geführt, in dem der Dichter August Heinrich Hoffmann von Fallersleben (1798–1874) als Bibliothekar die letzten 14 Jahre seines Lebens verbrachte. Das wohl Beeindruckendste an der nahezu 80.000 Quadratmeter großen Anlage ist das Karolingische Westwerk aus der Gründungszeit des Klosters im Jahre 822. Steigt man die gewundene Treppe in das Obergeschoss hinauf, eröffnet sich der Blick auf die erst nach 1961 freigelegten mittelalterlichen Fresken; darunter ist ein in Rot gemalter Odysseus zu entdecken, im Kampf mit dem Meeresungeheuer Skylla. Etwas verblasst findet man über einem Säulenkapitell den Delfinreiter.
Im Anschluss besuchten wir die Erzbischöfliche Akademische Bibliothek in Paderborn unter der Leitung von Herrn Prof. Dr. Stork, der uns zu Kaffee und selbst gebackenem Kuchen einlud. Derart gestärkt, zeigte Herr Stork uns ein beeindruckendes Evangeliar aus dem Jahr 844 und andere Kunst- und Bücherschätze. Bemerkenswert war auch ein reich kolorierter Atlas von Johannes Giga sowie ein Lederschnittband aus dem 15. Jahrhundert. Herr Stork wusste viel über die Geschichte des Klosters Corvey zu erzählen: So wie über das Schicksal der ersten sechs Bücher der »Annales« von Tacitus, die im 9. Jahrhundert im Kloster Fulda kopiert worden waren. Eine dieser Abschriften gelangte nach Corvey, war aber im Laufe der Zeit vergessen worden. Erst 1508 wurde die Abschrift von einem Gelehrten wiederentdeckt, um kurz darauf im Auftrag von Papst Leo X. (geborener Giovanni di Medici; 1475–1521) von den berüchtigten »Handschriften-Jägern« gestohlen zu werden. Diese waren angewiesen, klassische lateinische Texte nach Rom zu bringen, dazu war ihnen jedes Mittel Recht, Diebstahl miteingeschlossen.
12. Mai
Dr. Bernhard Lauer, Geschäftsführer der Brüder Grimm-Gesellschaft, schloss unser Seminar wunderbar ab. Sein Vortrag vertiefte unseren ersten, eher oberflächlichen Einblick in das Leben, Werk und Wirken der Brüder in der Grimmwelt vom Anfang des Seminars, dort für einige mit einem zu spielerisch-didaktischem Ansatz. Er ging auch auf die Brüder als Sprachwissenschaftler und ihre politischen Tätigkeiten ein. Unter seiner Leitung wurden die Handexemplare der Grimm‘schen Kinder- und Hausmärchen auf Antrag des Vorstandes zum Weltdokumentenerbe der UNESCO erklärt. Auch ein bisschen Kulturszenen-Gossip wurde ausgetauscht.
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann treffen sich alle nächstes Jahr in Leipzig wieder …
Text: Selma El Sayed und Josephine Faroqui
Fotos: Robert Schoisengeier
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