» zum Schaufenster des Verbandes Deutscher Antiquare e.V. »
»Und was haben wir doch für ein Glück mit dem Wetter!«, war sicher der meist geäußerte Satz – allerdings eingebettet in ein allgemeines Gefühl der Zufriedenheit. Denn nicht nur hatten sich zu Seminarbeginn am Donnerstag sonnige Spätsommertage eingestellt und die Atmosphäre der Stadt zusätzlich verschönt, auch alle Programmpunkte trafen auf Interesse und Geschmack der 37 TeilnehmerInnen. Das Seminar mit einer Grachtenfahrt zu beginnen, war eine überzeugende Ideen des Organisationsteams aus Alexis Cassel, Markus Brandis und Hermann Wiedenroth, unterstützt von Annemieke und Gerhard Leyerzapf. Dank Letztgenanntem wurde aus einem beliebten Touristenprogramm gleich eine Lehrstunde: Denn »der Ortsheilige« Gerhard (so Brandis) machte die Führung per Schiff zu einer anregenden Fahrt durch Kunst- und Kulturgeschichte der Stadt.
Alle Referenten an den vier Tagen einte eine große Begeisterung für ihr Wissensgebiet und die Freude, andere daran teilhaben zu lassen. Die meisten bedienten sich der deutschen Sprache und würzten ihre Vorträge mit dieser typisch holländischen Prise aus augenzwinkerndem Understatement – selten wurde wohl so viel gelacht und amüsiert geschmunzelt wie bei diesem Fortbildungsseminar. Was keineswegs bedeutet, dass wir nicht staunten und lernten, im Gegenteil.
Gleich zu Beginn führte im Zuid-Afrikahuis Dr. Hans Ester, der langjährige Vorsitzende der dortigen Bibliothek, in die Geschichte der Kolonisierung Südafrikas seit 1652 ein. Als guter Kenner und Freund des Landes beschrieb er Südafrika als Projektionsfläche der Wünsche Europas durch seine »Sonderposition aus sublimer Landschaft, reichhaltiger Natur und düsterer Geschichte«.
Amsterdam als Sitz der Niederländischen Ostindien-Compagnie, dieses ersten multinationalen und seinerzeit weltgrößten Betriebes, profitierte seit Anfang des 17. Jahrhunderts: Nicht zuletzt der Handel mit Gewürzen wie Pfeffer hat den Reichtum der Stadt begründet, deren Kaufleute sich zum Glück der Nachwelt auch gern mit Kunstsammlungen schmückten.
Das Gebäude des Zuid-Africahuis mit dem doppelten Adler wurde im Zuge der Erweiterung des Grachtengürtels erbaut und bereits 1616 erwähnt; inzwischen beherbergt es neben der Bibliothek und verschiedensten Sammlungen Räume für Vorträge und Konzerte und unterstützt Studenten-Austauschprogramme.
Der Geist weht, wo er will
Eine einmalige Sehenswürdigkeit ist die »Bibliotheca Philosophica Hermetica«, ebenfalls an der Keizersgracht gelegen und seit 2006 in dem so genannten »Haus mit den Köpfen« (griechischer Gottheiten) untergebracht; dieses Kulturdenkmal aus dem frühen 17. Jahrhundert, in dem auch mal der Philosoph Comenius wohnte, beherbergte wohl schon immer eine Bibliothek, überliefert ist jedenfalls ein früher Katalog. Mit der private Sammlung des Kaufmanns Joost Ritman kam ein Gutteil der im Katalog genannten Bücher wieder ins Haus, was der Hausherr nicht wenig stolz erwähnt, als er die Führung von Frau Dr. José Bouman begleitet. Die eigentliche Bibliothek mit 25 000 Büchern, darunter ein Fünftel vor 1900, ist unsichtbar im Souterrain untergebracht, viele der alten Werke sind digitalisiert. Die öffentliche Ausstellung aus Bildern, Illustrationen und Grafiken liefert jedoch einen imposanten Eindruck, noch ergänzt um einige nur für uns ausgebreitete Schätze, die dem neuen Namen der Sammlung alle Ehre machten: »Embassy of the Free Mind«.
Die Freigeister fanden einen gemäßen Ort hier in Amsterdam, wo einst die Werke von Jakob Böhme zuerst gedruckt wurden – das »Mysterium Magnum« des Mystikers und Philosophen war das erste Buch in der Sammlung Ritman.
Der Leiter des Forschungsinstituts Dr. Peter Forshaw gab abschließend eine temperamentvolle Einführung in die aktuelle Ausstellung zu Kabbala und Alchemie.
»Wir haben ein paar sehr schöne Sachen«
Den Freitag verbrachten wir in der Universität Amsterdam, genauer in »De Collecties van de Universiteit van Amsterdam«, die zur Unterscheidung von der »Nieuwe Universiteitsbibliotheek« seit diesem Jahr unter dem Namensdach des archäologischen Museums Allard Pierson segelt, benannt nach der geschenkten Sammlung des gleichnamigen Gelehrten.
Die Bibliothek nahm ihren Anfang 1578 mit 50 Büchern aus einem Pfarrer-Nachlass, jetzt umfasst sie 82 Kilometer Regale, das sind 15 bis 20 Millionen Bücher. In seinem bilderreichen Vortrag gab Dr. Jos van Waterschoot einen Überblick über die Fülle der Sammlung mit 300 Inkunabeln und 150 000 Büchern vor 1890, außerdem Umschläge, Einbände, Typografie, Kalligrafie, Buntpapiere. Weiterhin enthält sie illustrierte Bücher, vor allem zu Amsterdam, Werke zur Theatergeschichte, eine kulinarische Bibliothek mit 100 000 Titeln, Kinderbücher und -zeichnungen, Dokumente zur Geschichte der Universität von Gelehrtenporträts bis zum Studenten-Almanach, eine buchhistorische Sammlung, fünf Kilometer Buchhändlerarchiv sowie internationale Antiquariatskataloge seit dem 19. Jahrhundert.
En passant lieferte er einen Überblick über die Geschichte der Branche – 1507 arbeitete der erste Drucker in Amsterdam, im 17. Jahrhundert waren die Niederlande eines der freiesten Länder für den Buchdruck und heute residiert dort Brill als weltweit agierender wissenschaftlicher Verlag.
Der Blick auf die Gegenwart lässt die Frage nach dem Bewahren aufkommen: es stehen sich 550 Jahre Buchdruck und 20 Jahre Digitales gegenüber … Die Geschichte des 21. Jahrhunderts wird wohl nie mehr so rekonstruierbar und präsentabel sein. Um so mehr erfreute uns der Besuch der anschaulichen wie sehenswerten Ausstellung der Amsterdamer Druck-, Verlags- und Bibliotheksgeschichte.
Der anschließende Vortrag über die im frühen 19. Jahrhundert nacheinander und parallel arbeitenden Verlagsbuchhandlungen Johannes Müller und Frederik Muller von Dr. Adriaan Plak zeigte die enge Verbindung zwischen den Städten Krefeld und Amsterdam sowie familiärer Beziehungen im Geist der Mennoniten. Bedenkenswert ist unbedingt das Statement von Frederik Muller über Antiquare: »No trade is so admirably adapted to benefit science and mercantile interests at the same time.«
Von der Bibel bis zum Comic
Nachmittags konnten die SeminarteilnehmerInnen jeweils drei von vier möglichen Präsentationen wählen und schienen alle überaus angetan, egal ob sie von Dr. Reiner Storm in die Karthografie eingeführt wurden oder mit Dr. Mathieu Lommer ein Randgebiet der Typographie kennenlernen konnten, die von Hand gezeichnete Schrift, also etwa Vorlagenbücher, die parallel zur Erfindung der Lithographie entstanden. Dr. Klaas van der Hoek hatte eine Auswahl handschriftlicher Höhepunkte ausgebreitet, darunter eine zweispaltige Bibel von 1580 mit einem für Amsterdam typischen gezeichneten Buchschmuck, Stundenbücher mit wunderbaren Miniaturen, Naturkunden und ungewöhnliche Stammbücher oder ein in seiner Seitenfülle schier aufbrechendes Notizbuch des niederländischen Gelehrten G. J. Vossius, das in der Bibliothek sinnfällig »Gürteltier« genannt wird.
Dr. Jos van Waterschoot ist nicht nur Kurator für Buchgeschichte, sondern Spezialist für Comics. In dieses für Antiquare vielleicht etwas entlegenere Gebiet Einblick zu bekommen, war überaus spannend: Wie verschieden die Zeichnungen, ihre Kontexte und (politische) Aussagen sein können, wie beeindruckend Originalblätter und wie ungewöhnlich die Provenienzen. In die Sammlung Allard Pierson kommt vieles als Schenkung, aber der Kurator schreibt selbst Besprechungen, um Rezensionsexemplare der in kleinen Auflagen erscheinenden Bände zu erhalten.
Mehr erfahren hätte man gern noch über die Rosenthaliana, eine der größten jüdischen Bibliotheken der Welt, aus der Sammlung eines Kaufmanns hervorgegangen.
»Bordelle und das tägliche Leben«
Der Samstagvormittag war dem Rijksmuseum gewidmet und begann mit Kaffeetrinken im geschmackvollen Design des Ateliergebouw.
Der langjährige Leiter der Bibliothek Dr. Geert-Jan Koot gab einen Überblick über die Geschichte und Bestände der seit 1885 bestehenden Forschungsbibliothek, die jährlich um 10 000 bis 12 000 Bände wächst und inzwischen neben Wissenschaftlern auch für das interessierte Publikum sechs Tage die Woche geöffnet ist.
In seinem Vortrag legte Dr. Koot einen Schwerpunkt auf Werke zur Technik der Kunst: von einem 1535 in Augsburg erschienenen »Kunstbüchlin gerechtten gründtlichen gebrauchs aller Werckleüt« und weitere Bücher über die Zubereitung von Malerfarben und das älteste Buch über Schlösser und Schlüssel, bis zu einem Musterbuch für Stofffarben mit eingeklebten Proben. Im Anschluss an seinen Exkurs über die Erfindung der Anilinfarben, die für Textilien wie für Malerfarben Verwendung fanden, aber nicht lichtecht waren, entspann sich eine Diskussion darüber, wie man mit den ausgebleichten Stellen – zum Beispiel einem nicht mehr rotbraunen, sondern blassgrauen Erdhaufen – auf van Goghs Gemälde des »Gelben Hauses« umgehen soll …Bevor die originalen Kunstwerke im Rijksmuseum in Augenschein genommen werden durften, gab es einen kunsthistorischen Vortrag der allerbesten Art von Dr. Matthias Ubl über den anonymen Antwerpener Maler, der um 1535 mit »IMSV« zeichnete und wegen seines dort bewahrten Gemäldes »Das Gleichnis vom großen Gastmahl« als »Der Braunschweiger Monogrammist« bekannt ist. Anhand von Detailaufnahmen und Vergleichen arbeitete Dr. Ubl heraus, wie dieser Künstler »Bordelle und das tägliche Leben« zwar am Rand, aber unübersehbar darstellte, um menschliches Fehlverhalten zu tadeln. Es seien wohl Auftragsarbeiten reformierter Amsterdamer Bürger, entstanden im Licht des aufkommenden Protestantismus, um bei gemeinsamer intensiver Betrachtung Gesellschaftskritik zu üben – sich vielleicht über Geistliche und Landsknechte bei Prostituierten zu erregen. Diesen Wegbereiter der niederländischen Genremalerei vor Bruegel kennen zu lernen, war eine so amüsante wie für die spätere Bildbetrachtung nachhaltige Lehrstunde.
In kleineren Gruppen erhielten wir anschließend Führungen durch das Rijksmuseum, das zweifellos viele weitere Stunden, wenn nicht Tage intensiver Beschäftigung verdiente. Immerhin erhielt man einen Eindruck von der neuen Präsentation, die Gemälde, Skulpturen und Gegenstände der jeweiligen Zeit nebeneinander zeigt.
Bookdealers since 1945
Nachmittags lockten die Sonne und Märkte zum Flanieren, ein Besuch im gemütlichen und erlesenen Antiquariaat Die Schmiede von Annemieke und Gerhard Leyerzapf und (die Berichterstatterin auf deren Tipp hin) zur Besichtigung des kleinen privaten Pianola-Museums, bevor man sich zum Empfang der Nederlandschen Vereeniging van Antiquaren im Antiquariaat A. Kok & Zn. wieder traf. Dieses seit 1945 zunächst als »Lesebibliothek« bestehende, zweimal innerhalb derselben Straße, der Oude Hoogstraat, umgezogene Geschäft beeindruckt durch schiere Größe: 1500 Quadratmeter auf fünf Etagen, voller Bücher, aber auch Schreibmaschinen und andere zum Metier des Schreibens und Lesens gehörende Gegenstände, zwischen denen noch Platz für Getränke und Häppchen blieb.
Überaus gastfreundlich begrüßte Seniorchef Ton Kok, ebenso strahlten Ehefrau Marga und die beiden inzwischen das Unternehmen führenden »Kinder« Sascha und Sander herzliches Willkommen aus. Die SeminarteilnehmerInnen nutzen nicht nur die Gelegenheit für Einkäufe, sondern zu intensiven Gesprächen – eigentlich hätte man die ganze Nacht in diesem Bücherparadies verbringen mögen.
Am Sonntagmorgen trafen wir uns im Goethe-Institut der Niederlande zu drei wiederum ganz andersartigen Vorträgen. Den Anfang machte Dr. Jaron Borensztajn mit der Vorstellung seines Großvaters Felix Tikotin, der sich als Kunsthändler, -sammler und schließlich 1960 als Gründer eines Museums für Japanische Kunst in Haifa einen Namen machte. Nachdem er dieses Sammelgebiet 1910 entdeckt hatte, ließ es ihn nicht mehr los: Ihn interessierten neben Gemälden und Drucken auch Bücher sowie Netsuke und Origami. Bereits in den 1920er Jahren eröffnete er Galerien in Dresden und Berlin, nach seiner Emigration 1933 in die Niederlande in Amsterdam und Den Haag.
Andreas Landshoff begann den Vortrag über seinen Vater mit der Anekdote, dass Fritz Landshoff und Georg Kaiser, als sie am 30. Januar 1933 im Café Kranzler saßen, witzelten: »ein Kegelverein verändert seinen Vorstand«. Die Einsicht in ihre Lage gehörte nicht zu den Tugenden der Juden, merkte er sarkastisch an.
Sehr sachlich ließ Andreas Landshoff die Verlagsgeschichte Revue passieren, von den verlegerischen Anfängen bei Kiepenheuer, die mit der Machtübernahme der Nazis abrupt endeten. Als aus Amsterdam von Emanuel Querido die Anfrage kam, zögerte Landshoff nicht lange und reiste in die Niederlande, um dort eine deutschsprachige Abteilung zu gründen. Nicht wenige seiner Autoren nahm er mit und in den folgenden zwölf Jahren konnten 124 Titel erscheinen, darunter Werke von Heinrich Mann, Anna Seghers, Ernst Toller, Arnold Zweig, Lion Feuchtwanger. Gleich im ersten Jahr kam die erste Nummer der von Klaus Mann herausgegebenen Zeitschrift »Die Sammlung«, der in zwei Jahren 23 Ausgaben folgten. Zwischen den beiden Männern entstand eine »brüderliche Freundschaft«, die beide als großen Gewinn empfanden.
Landshoff hatte die Idee, die Vorschüsse in Raten zu zahlen, was den Schriftstellern im Exil ein kleines regelmäßiges Einkommen garantierte – für den Verlag bedeutete es freilich hohe Investitionen und hohes Risiko.Nach der deutschen Besetzung Hollands verbrannten Mitarbeiter das Verlagsarchiv; Landshoff weilte gerade in London und konnte über Mexiko in die USA emigrieren; Querido und seine Frau wurden von der Gestapo verhaftet und ermordet. Als letztes Buch des Querido Verlags erschien 1950 die Anthologie »Klaus Mann zum Gedächtnis«; Fritz Landshoff starb 1988 in Haarlem.
»Unrecht rächt man am besten durch Vergessen«
Zum Abschluss des Seminars trat in guter alter Tradition ein teilnehmender Antiquar selbst auf: Gerhard Leyerzapf stellte Leben und Werk des Grafikers Herbert Meyer-Ricard vor, der 1908 in Frankfurt geboren seit 1935 in Amsterdam lebte. Gemeinsam mit seiner Frau Vera Haymann und der Schriftstellerin Grete Weil betrieb er, nachdem er sein grafisches Atelier nicht weiterführen durfte, ein sogenanntes Konstruktionsbüro, in dem Figuren für den Verkauf und Theaterstücke für Freunde entstanden. Im Januar 1944 – als es keine Razzien mehr gab, weil die Nazis in Amsterdam keine Juden mehr vermuteten – gründeten sie die »Hollandgruppe Freies Deutschland«, um mit Flugblättern in deutscher Sprache Informationen über die Lage zu verbreiten. Außerdem halfen sie desertierten Soldaten beim Untertauchen und mit falschen Papieren, nach Kriegsende veröffentlichten sie Texte über die »Weiße Rose« und über Buchenwald, veranstalteten Ausstellungen über John Heartfield und Käthe Kollwitz. Herbert Meyer-Ricard konnte später noch einmal mit seinem grafischen Büro reüssieren, 1988 starb er. Er ist, so resümierte Gerhard Leyerzapf, das Beispiel eines unbekannten Exilanten und die Erinnerung an ihn bedeutete auch die an ein anderes Deutschland wachzuhalten – was nach Kriegsende bei der Normalisierung der deutsch-niederländischen Beziehungen half.
Mit einem herzlichen Dank an das Organisationsteam und einem Imbiss im sonnigen Hof des Goethe-Instituts endete das Seminar. Mit leichter Wehmut, dennoch beflügelt von den positiven Eindrücken verließ man diese gastliche Stadt, in der die Kunst und die Geschichte der Buchkultur so gegenwärtig erscheinen.
Einige der SeminarteilnehmerInnen freuen sich bereits auf die 39. Amsterdam International Antiquarian Book Fair Anfang Oktober, andere auf den ILAB Congress im Herbst 2020. Und alle auf das 50. Fortbildungsseminar, das zum Jubiläum in München stattfinden wird.
Fotos von Irene Ferchl, Brigitte Hofius und Inge Biebusch
Wer dabei war, wird es bestätigen: »Flachland und Nachschlagewerke« haben durchaus ihren Reiz und der Arno Schmidt entlehnte Titel des diesjährigen Seminars wies eher auf norddeutsches Understatement hin denn auf Ödnis und Fleiß …
Denkbar unterschiedliche Bibliotheken und Archive, Museen und Antiquariate, Schriftsteller und Künstler gab es zu sehen und erleben – der Seminarausschuss hatte wieder ein interessantes und üppig bestücktes Programm zusammengestellt. Für Regina Kurz und Eberhard Köstler war es der Abschied aus der aktiven, verantwortungsvollen Arbeit, für Hermann Wiedenroth ein genussvolles Heimspiel; mit ihm zusammen werden Alexis Cassel und Markus Brandis ein kreatives Team für die künftige Planung und Organisation abgeben.
Die Stadtbibliothek Hannover und der Heidedichter Hermann Löns
Auftakt für das Seminar war am Donnerstagmittag der Besuch der Stadtbibliothek Hannover, genauer: der Zentralbibliothek mit der Musikbibliothek und 16 Stadtteilbibliotheken, die von ihrer Direktorin Dr. Carola Schelle-Wolf in ihrer Funktion als öffentliche Benutzungseinrichtung vorgestellt wurde. Über eine Million Medien aus allen Fachgebieten stehen bereit – dass man sich von gedruckten Lexika getrennt hat, ist für uns 25 Büchermenschen freilich schwer zu verstehen, aber Platzmangel ist in dem 1931 errichteten Backsteingebäude mit dem charakteristischen Magazinturm ein Dauerthema, trotz dreier Erweiterungsbauten, zuletzt 2003.
Einen Eindruck von dem ehrwürdigen Alter der Hannoverschen Stadtbibliothek – 2015 wurde ihr 575-jähriges Bestehen gefeiert – erhält man nur noch beim Betrachten der Ratsbibliothek in ihrem gläsernen Gehäuse, hier ruhen die Schätze, für die regelmäßig aufgeschlossen wird: Einmal im Monat wird der Öffentlichkeit ein besonderes Buch vorgestellt. Umgeben ist dieser älteste Bestandteil mit seinen Wurzeln bis ins 15. Jahrhundert von aktuellen CDs und einer langen Wandvitrine für Ausstellungen. Derzeit wird des Hannoverschen Dichters Gerrit Engelke zum 100. Todestag gedacht. Kuratiert hat sie Detlef Kasten, Mitarbeiter für Musik und Sondersammlungen Archiv (einen Sammelauftrag besitzt die Stadtbibliothek lediglich für die Bereiche Hannover und Niedersachsen), der den Heidedichter Hermann Löns »im Faktencheck« gewissermaßen hart, aber fair als eine äußerst zwiespältige Persönlichkeit vorstellte: den Schneckenforscher und Jäger, den Journalisten und Alkoholiker so ehrgeizig wie unzuverlässig, beliebt und erfolgreich als Kolumnist (Fritz von der Leine), Entdecker der Lüneburger Heide und Prophet des gesunden Landlebens, was sich bei Löns mit rassistischem Gedankengut mischte. Er meldete sich zu Beginn des Ersten Weltkriegs als Freiwilliger und starb schon im September 1914 an der Marne. Dass sein Name zumindest in Norddeutschland bis heute präsent ist, überrascht nicht wenig – allerdings kann eine Tour auf einem Löns-Wanderweg durchaus erfreuen, wie die Berichterstatterin im Anschluss an das Seminar an der Mittelweser erfahren durfte …
Eine kritische Ausgabe des verstreut, in immer neuen Kombinationen und Fassungen publizierten Werks von Löns aus Gedichten, Romane, Erzählungen, Naturschilderungen, Tierbüchern etc. hat niemand unternommen, wohl aber gibt es analytische und kritische Würdigungen in Dissertation und Biografie von Thomas Dupke und Heinrich Thies.
Merz ist nicht Dada. Merz ist das Lächeln am Grabe …
Hingegen Kurt Schwitters! Die exzellente Kennerin seines Werkes Maria Haldenwanger präsentierte seine Merzhefte, diese ab 1923 erschienene Publikationsreihe mit originalsprachigen Beiträgen, unterschiedlichen Formaten und Typographie (unter anderen von El Lissitzky und Jan Tschichold). Sie beschäftigen sich mit Pelikan-Produkten der Firma Wagner ebenso wie mit Dada in Holland, enthalten »Das Märchen vom Paradies« oder den »Hahnepeter« von Käte Steinitz und Schwitters, sind teilweise nur angekündigt, aber nie erschienen wie die Schallplatte mit der »Ursonate«. Eine bunte dadaistische, besser merzische Geschichte wurde vor unseren Ohren und Augen ausgebreitet, mit allen Höhen und Tiefen, die Kurt Schwitters mit seiner angriffigen und angegriffenen Kunst und den nie leicht zu finanzierenden Merzheften erleben musste – bis hin zu seiner Emigration nach Norwegen und der späteren Flucht nach England. So kann man es als ein großes Glück betrachten, dass der Nachlass nun in Hannover liegt, teils »als kleiner Schatz« im Schwitters Archiv der Stadtbibliothek, teils in der Stiftung im Sprengel Museum.
Zuletzt las Maria Haldenwanger das Hannover-Gedicht von Schwitters, das zum vergnüglichen Nachlesen hier wiedergegeben sei:
»Die Hannoveraner sind die Bewohner einer Stadt, einer Großstadt. Hundekrankheiten bekommt der Hannoveraner nie. Hannovers Rathaus gehört den Hannoveranern, und das ist doch wohl eine berechtigte Forderung. Der Unterschied zwischen Hannover und Anna Blume ist der, daß man Anna von hinten und von vorn lesen kann, Hannover dagegen am besten nur von vorne. Liest man aber Hannover von hinten, so ergibt sich die Zusammenstellung dreier Worte: ›re von nah‹. Das Wort ›re‹ kann man verschieden übersetzen: ›rückwärts‹ oder ›zurück‹. Ich schlage die Übersetzung ›rückwärts‹ vor. Dann ergibt sich also als Übersetzung des Wortes Hannover von hinten: ›Rückwärts von nah‹. Und das stimmt insofern, als dann die Übersetzung des Wortes Hannover von vorn lauten würde: ›Vorwärts nach weit‹. Das heißt also: Hannover strebt vorwärts, und zwar ins Unermeßliche. Anna Blume hingegen ist von hinten wie von vorne: A-N-N-A.
(Hunde bitte an die Leine zu führen.)«
Rundgänge durch Wissenswelten
»Eine Bibliothek ist die Schatzkammer aller Reichtümer des menschlichen Geistes«, formulierte Gottfried Wilhelm Leibniz, der 40 Jahre lang, von 1676 bis zu seinem Tod, das Amt des Hofbibliothekars versah, nachdem die Büchersammlungen der welfischen Fürsten ein Jahrzehnt zuvor mit der Verlegung der herzoglichen Residenz von Celle nach Hannover gekommen waren. Einer seiner bedeutenden Nachfolger war der Literat Werner Kraft, der nach nur fünf Jahren 1933 als Jude aus dem Dienst entlassen wurde und emigrieren musste. Nach dem Zweiten Weltkrieg und einer Hochwasserkatastrophe 1946 begann die Geschichte der dann Niedersächsischen Landesbibliothek; 1976 erfolgte der Umzug in den gläsernen Neubau an der Waterloostraße, 2005 die Umbenennung in Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek (GWLB). Heute versteht sie sich – so die stellvertretende Leiterin Dr. Anne-Katrin Henkel – als eine Bibliothek für Stadt, Land und Universität, damit auch als ein kultureller Raum und Ort des Austausches. Dem entspricht die großzügige, helle, transparente Architektur mit einem Veranstaltungsraum rechts und einer Freihandaufstellung links vom Eingangsfoyer.
Eine immer mal wieder aktualisierte Dauerausstellung »Wissenswelten – Bibliothek als Enzyklopädie« präsentiert besondere Besitztümer wie den Goldenen Brief des birmanischen Königs Alaungphaya und Autographen aus dem Leibnizschen Nachlass sowie das einzig erhaltene Exemplar seiner »Vier-Spezies-Rechenmaschine« und das Modell einer horizontal laufenden Windmühle, Pergamenthandschriften aus Nonnenklöstern der Lüneburger Heide, aber auch ein Raubdruck der Diderot-D’Alembertschen Enzyklopädie und zum Vergleich daneben ein Wikipedia-befüllter Stick. Wie sich Wissen und unser Umgang damit verändert, wie seine Träger einst und jetzt katalogisiert und verwaltet werden, ließ sich bei den Führungen anschaulich erfahren – ebenfalls die Existenz von »Fake News« von mittelalterlichen Fälschungen über Tarnschriften bis zur BILD-Zeitung.
Eindrücklich war allen die Haptothek, in der Ketten- und Beutelbücher, unterschiedliche Druck- und Einbandmaterialien, Schließen angefasst und Bücher »aufgeschlagen« werden dürfen, dazu finden sich Informationen zu allen Techniken rund ums Buch, besonders auch für Kinder. Eine solche Haptothek sollte an vielen Orten sicht- und fühlbar sein!
Matthias Wehry, der uns kundig und anschaulich geführt hatte, stellte zusammen mit Björn Schreier eine Reihe aktueller, interessanter, mit Geschichten befrachteter Exponate vor wie etwa Adressbücher seit 1790, ein aufgerolltes, langes Panorama mit der Darstellung der Krönung von Georg IV. und die »Esther-Rolle« mit deutschem Text und reichen Illustrationen, eine Streckenkarte, die vermutlich der Vorbereitung einer Reise Georgs III. diente, oder eine Karte der Sturmflut von 1610.
Wurstbuch und Mäusefraß und ein gigantisches Puzzle
Nach der Brotzeit ging es ins Untergeschoss in die Restaurierungswerkstatt, wo Meike Fricke ihr Nähkästchen öffnete und den Arbeitsalltag vorführte: Das Anfasern und die Existenz von Knotenregister lernten wir kennen, sahen das tatsächliche Vorkommen von Salamischeiben als Lesezeichen und ein von einem Hund völlig zerbissenes Buch, was wohl keine Maus jemals schafft, und bewunderten das für die sofortige Sicherung eines fragilen Buches gebaute Futteral. Mit praktischen Tipps versehen und großer Zuversicht in vielfältige Rettungsmöglichkeiten stiegen wir wieder ans Tageslicht. Um dann von Dr. Siegmund Probst in das Leibniz-Puzzle-Projekt eingeführt zu werden, das nichts weniger ist als die digitale Rekonstruktion eines gigantischen Zettelkastens respektive Exzerpierschrankes voller zerschnittener Blätter – das Universalgenie Leibniz notierte die unermessliche Zahl seiner Ideen eben nicht in einer nachvollziehbaren thematischen Ordnung, vielmehr bestand seine Arbeitsweise aus schreibendem Denken und schneidendem Ordnen, was der Nachwelt »ein groß Chaos« bescherte. Vier Editionsstellen sind noch damit beschäftigt, daraus ein geordnetes Werk herzustellen; 60 von 130 geplanten Bänden sind fertig, die Vollendung soll 2055 erfolgen. Leibniz war selbst geradezu die Verkörperung des enzyklopädischen Gedankens, sein Nachlass aus 400 000 Manuskriptseiten und 16 000 Briefen ist zu Recht in das UNESCO-Programm »Memory of the World« aufgenommen.
»Im Jahr 2004 kam die überaus wertvolle Bibliothek des Wehrbereichskommandos II (Hannover) als Dauerleihgabe in die GWLB. Sie umfasst rund 800 000 Bücher und Handschriften vom 16. bis zum 20. Jahrhundert.« So kurz und bündig beschreibt die Bibliothek selbst diesen Bereich. In einer Power-point-Vorführung zeigte Andreas Steinsieck ausgewählte Beispiele des Altbestands – wobei Festungsbau und Kriegstechnik ja durchaus von allgemeinem Interesse sein könnten.
Die Vorträge waren gut abgestimmt und von Marita Simon, der GWLB-Mitarbeiterin für Medien- und Öffentlichkeitsarbeit perfekt koordiniert.
Museum der Provinz Hannover
Der Spätnachmittag war einem Besuch im Landesmuseum gewidmet, einen kleinen Parkspaziergang von der Leibniz Bibliothek entfernt. Untergebracht sind in dem 1901 errichteten, gegenüber dem Neuen Rathaus am Maschpark gelegenen neugotischen Gebäude neben Bildender Kunst auch Naturkunde, Ethnologie und ein Münzkabinett; wir widmeten uns in zwei Gruppen einerseits einem Rundgang mit Jost Merscher durch die Abteilung der Malerei und Skulptur von gotischen Altarbildern über Riemenschneider, Cranach und Pontormo bis zu dem Tageszeitenzyklus von Caspar David Friedrich und Gemälden der deutschen Impressionisten und andererseits dem Kupferstichkabinett. Dr. Thomas Andratschke, derzeit mit der Vorbereitung einer großen Slevogt-Retrospektive beschäftigt, bot dort einen temperamentvollen Rundumschlag, blätterte durch die Mappe vom »Weyerberg« der Worpsweder Künstler und ließ die beiden Gruppen en passant an seinen Gedanken zur Kunstgeschichte und -soziologie teilhaben. Solche, die eigene Wahrnehmung und das Vorwissen ergänzende, zurechtrückende, durchaus auch in Frage stellende Vorträge wünscht man sich öfters. In angeregten Gesprächen ging es zum deftigen Abendessen bei Rackebrandt in Hannover-Linden, wo sich seit jeher die Singvereine treffen.
Wie Arno Schmidt nach Bargfeld kam
Während der Busfahrt von Hannover gab Hermann Wiedenroth eine Einführung in Arno Schmidts Biografie mit besonderer Berücksichtigung seines Lebensortes und unseres Reiseziels Bargfeld. Der 1914 geborene Hamburger hatte sich in südlicheren Gegenden wie dem Saarland und Darmstadt nie wohl gefühlt und in den 1950er Jahren mit Gerichtsprozessen (wegen Pornographie und Blasphemie) und Armut zu kämpfen. Sein Künstlerfreund Eberhard Schlotter vermittelte dann 1958 das Häuschen in Bargfeld, einem Dorf ohne Kirche ergo Glocken, der Schule am anderen Ortsende und einem Kaufmann gegenüber. 150 Einwohner, einsam auf dem platten Land.
»Das orzüpliche bretterverschalte Fachwerk. Etwas kleiner als durchschnittlich. Fahlgrüner Anschtrich. Lattenzaum mit Tännchen; eine länglich=dunkle Schuppenwand«, so beschreibt es Arno Schmidt in seinem Roman »Kaff auch Mare Crisium« von 1960.
Die Geschäftsführerin der Arno Schmidt Stiftung schließt auf: mit Zaun und Kette hatte Schmidt sich gegen ungebetene Besucher geschützt, nur einer hatte später Zutritt: Jan Philipp Reemtsma, der 1977 als angefixter Student kam und zum Mäzen wurde. Ihm hatten Arno und Alice Schmidt zu verdanken, dass das Häuschen mit seinem Schuppen einsam am Dorfende inmitten eines großen Grundes bleiben, das ambitionierte Werk vollendet und nach dem Tod des Dichters eine Stiftung gegründet werden konnte. Sie pflegt den Nachlass und das Andenken mit Editionen, Ausstellungen und Lesungen, betreut das Wohnhaus als Museum (das nicht mehr als sieben Personen zugleich betreten dürfen) und besitzt dazu idealerweise in der Nachbarschaft ein eigenes kleines Domizil.
Für die meisten von uns war Bargfeld bisher unbekannt, aber auch, wer mit Arno Schmidt Biografie und Büchern vertrauter war und Fotos gesehen hatte, stand beeindruckt in den winzigen altmodischen Räumen: 70 Quadratmeter auf zwei Etagen, im Erdgeschoss das Heiligtum, Arno Schmidts Arbeitszimmer mit der vor allem aus Werkausgaben und Nachschlagewerken bestehenden Bibliothek, ein Weltempfänger, mehrere Schreibmaschinen, auch eine für A3, um »Zettels Traum« zu tippen, sein Schlafzimmer. Ehefrau Alice bewohnte nach Arno Schmidts Herzinfarkt den durch eine schmale, steile Treppe zu erreichenden oberen Stock. Das Badezimmer und die kleine Küche stammen aus einer längst vergangenen Zeit, den 1950er bis 1970er Jahren, alles wirkt bescheiden bis ärmlich. Sogar einen Esstisch sucht man vergebens – gegessen wurde stehend in der Küche, um bloß keine Zeit zu verlieren … Immerhin gingen die Schmidts gemeinsam spazieren, spielten Schach und besaßen ab 1963 einen Fernseher. Übrigens auch ein Tandem, das im Celler Museum steht. Und natürlich immer Katzen, die in dem Gelände ein Paradies hatten und deren Nachkommen sich dort tummeln.
Am Ende des Grundstücks, dort wo man in die Weite schaut, liegt ein Findling, darunter die Urnen des Ehepaars Schmidt.
Im großen Bibliotheks-, respektive Verkaufs- und Veranstaltungsraum des Wiedenrothschen Bücherhauses gab Susanne Fischer einen Einblick in die Arbeit der Stiftung; sie erzählte anschaulich, was außer den rund 7000 Bänden, den acht gut geordneten Zettelkästen und dem umfangreichen Briefwechsel alles zum Nachlass gehört: eine Kunstsammlung, über 2000 Fotos und Dias – Arno Schmidts Landschaftsaufnahmen sind in Ausstellungen und Bildbänden zu sehen –, eine Textiliensammlung, denn Schmidts wollten nichts wegwerfen, sowie Gläser mit Eingemachtem. Der Begriff des »Entsammelns«, des sich von manchem Trennenmüssens liegt da nahe …
Obwohl es Platz zum Bewahren durchaus gibt: Die riesige Kartoffelscheune bietet der Stiftung und Wiedenroth Lagerraum und Infrastruktur zum Versand.
Im seinem Bücherhaus beeindruckt neben dem wunderbaren Antiquariat, in dem wir uns am Nachmittag noch einmal tummelten und versammelten, die umfangreiche Handbibliothek und eine penibelste Ordnung, alles wirkt geschmackvoll und erlesen.
Über die Geschichte des Hauses und seiner eigenen Sammelfreude plauderte Hermann Wiedenroth wie immer unterhaltsam und druckreif, bevor er sich in seinem Vortrag anderen Antiquarskollegen als Sammlern und Autoren widmete, in einem Rundumschlag von Dieter Gätjens Arno Schmidt-Bibliotheksverzeichnis über H. P. Kraus’ »Saga von den Kostbaren Büchern« und Jürgen Holsteins »Goldrausch« über Fritz Eggerts, Wilhelm Junks und Abraham Horodischs Publikationen bis zu Festschriften, etwa für Susanne Koppels und ihren bibliophilen Katalogen.
Es wurde eine kleine Lehrstunde über das Antiquariat – schwärmerisch, begeisternd und die Branche feiernd.
Aber das war noch nicht alles für diesen Samstag. In Celle stand der Besuch des Bomann-Museums am Schlossplatz an, durch dessen imposante kulturhistorische Räume Dr. Jochen Meiners führte, während parallel dazu im Wechsel Dietrun Otten so vertraut wie kundig Grafiken und Mappenwerke von Eberhard Schlotter öffnete. Der 2014 gestorbene Künstler hat eine umfangreiche Stiftung hinterlassen, die in Celle untergebracht ist und aus der regelmäßig Ausstellungen bestückt werden, derzeit sind es Gemälde und Grafiken unter dem Titel »Echt scharf – der Spiegel als Spielfeld«. Von großem optischen Reiz sind etwa die »Don Quichote«-Prachtausgabe mit zweisprachigem Text mit 160 Farbradierungen in vier Kassetten, seine aus zwei Platten geschaffenen Radierungen zu Joyce’ »Anna Livia Plurabelle« oder die ebenfalls durch den literarischen Lehrer Schmidt angeregten Arbeiten zum Thema »Orpheus«, ein Rundbild und Grafiken, die eben nicht Illustrationen, sondern Bildnacherzählungen sein sollten und zusammen mit dem Schmidtschen Text erschienen. Und Streit auslösten, weil für den Schriftsteller ein nicht hinterfragbares Primat der Literatur galt.
Sonntagmorgen im Antiquariat Wilder
Einer schönen Tradition folgend fand auch diesmal der Abschluss des Fortbildungsseminars in einem befreundeten Antiquariat statt und wir durften ordentlich stöbern und kaufen; für das leibliche Wohl war mit Brötchen- und Kuchenbergen gesorgt, die ebenso wie die Neugier auf deren Kuriosa in die »Romanhefttauschabteilung« lockten.
Natürlich gab es daneben auch Intellektuelles: Markus Brandis hatte einen Vortrag über »Die 1500-jährige Rezeption eines Weltbildes. Almagest und Geographia des Claudius Ptolemäus« vorbereitet, der tatsächlich ein verständlicher, illustrierter Kurzdurchlauf durch die Astronomie-Geschichte war – und als Bonbon zum Anschauen noch einen beeindruckend schönen Atlas von 1541 bot. (Zum gelegentlichen Nachlesen kann man bei Markus Brandis ein pdf bestellen.)
Winfried Geisenheyner hatte sich die Geschichte des deutschsprachigen Kinder- und Jugendbuches vorgenommen, nannte die wesentlichen Stationen von den ABC-Tafeln des 15. Jahrhunderts über die Aufklärung und Rousseau, die politischen und gesellschaftlichen Implikationen mit der Trennung in Mädchen- und Knaben-Literatur im 19. Jahrhundert, die Reformpädagogik und die NS-Ideologie bis zum Perspektivenwechsel seit den 1970er Jahren, als plötzlich die kindliche Weltsicht und Erlebnisperspektive in den Blick gerieten. Wichtiger war ihm jedoch die Bedeutung dieses Genres für Sammler und AntiquarInnen, mündend in ein Plädoyer für Kinderbücher, die jeder Mensch zuerst aufnimmt und die sein Weltbild prägen, und in ein Plädoyer für einen intensiven Austausch darüber zwischen den Händlern und den Sammlern mittels Katalogen und im persönlichen Gespräch.
Da die Verteilung der Teilnahmeurkunden bereits am ersten Abend stattgefunden hatte, die Danksagungen an Eberhard Köstler und Regina Kurz für ihre immerwährende Rundumbetreuung am zweiten Abend, die an Hermann Wiedenroth in Bargfeld, galt jetzt der Dank dem gastgebenden Ehepaar Wilder und dem neuen Dreiergespann Alexis Cassel, Markus Brandis und Wiedenroth, die gemeinsam mit Annemieke und Gerard Leyerzapf sich nun in Amsterdam für das kommende Fortbildungsseminar umsehen werden. Ein Wunsch wurde mehrfach geäußert: ein bisschen mehr Zeit zum eigenen Schauen und gelegentlichen Atemholen einzuplanen.
Ansonsten geht es jetzt ans Postkarten schreiben, damit Regina Kurz und Eberhard Köstler der Abschied nicht so schwer fällt …
Text/Fotos: Irene Ferchl
Wer meinte, die Programmdichte der letzten Seminare sei nicht mehr zu toppen, wurde eines Besseren belehrt: Regina Kurz, Eberhard Köstler und Hermann Wiedenroth hatten sich als Planungsteam wieder einmal übertroffen – quantitativ und qualitativ. Von Donnerstag- bis Sonntagmittag reihten sich Vorträge an Präsentationen an Führungen durch Ausstellungen, ein Highlight folgte dem nächsten, unterbrochen lediglich durch ähnlich opulente Mahlzeiten (und wie bei Fortbildungen üblich etwas wenig Schlaf). »Lernen als stete Überforderung«, raunte Köstler – allerdings wurden die Teilnehmerurkunden schon am ersten Abend verteilt, beim Essen im Hofbräu.
Der kulinarische Teil hatte für Regina Kurz eine besondere Herausforderung bedeutet, wollten doch die Wirtshäuser lange im Vorfeld die Speisenauswahl wissen … Als gewiefte Organisatorin ahnte sie, dass ihre Seminaristen Wochen später nicht mehr so genau erinnern würden, ob sie Rauchbierhaxe oder Ochsenbäckchen, Krusten-Schäuferla oder Schweinshaxn, Gögerla oder Bfeffagögerla ausgewählt hatten, und schrieb für jeden Einzelnen jede Essensbestellung auf farbige Kärtchen. Vielen Dank auch dafür! Der Hirschkeller in Schweinfurt hat sie, die Mühe würdigend, mit einer Leuchtschrift »Herzlich Willkommen Antiquariat Kurz« geehrt.
Blau oder Gelb
Die blauen und gelben Kärtchen, die man wegen der Restaurantadressen und der individuellen Essensentscheidung ohnehin bei sich trug, dienten zugleich der gerechten Aufteilung der insgesamt 47 Teilnehmerinnen und Teilnehmer.
In den beiden kleineren Gruppen war es dann möglich und erlaubt, die Exponate in genauen Augenschein zu nehmen – dafür gebührt den Gastgebern – allen voran Bibliotheksdirektorin Dr. Bettina Wagner – ein herzlicher Dank und den Referenten für die doppelten Auftritte; man hat ihnen keine Mühe angesehen.
»Bibliophile Sammlungen in Ober- und Unterfranken« lautete der Titel des Seminars und mit zwei Sammlungen in der Bamberger Staatsbibliothek ging es los: den 165 mittelalterlichen Handschriften aus der Bibliothek Heinrichs II., dem Gründer des Bistums und Erbauer des ersten Doms im Jahr 1007.
Auf dem Domberg, in den Räumen der um 1700 erbauten Neuen Residenz, in unmittelbarer Nachbarschaft von Dom, Alter Hofhaltung mit Staatsgalerie, dem Historischen und Diözesanmuseum gelegen, ist die Bibliothek allerdings erst seit 1965 untergebracht und vereint die Funktionen einer allgemeinen und regionalen sowie einer Forschungsbibliothek mit geistes- und kulturwissenschaftlicher Ausrichtung. Der wertvolle Altbestand von Handschriften und alten Drucken entstammt dem ehemaligen Fürstbistum und anderer in der Säkularisation aufgelöster Stifte und Klöster und des Hochstifts Bamberg.
In dem wunderschönen Bibliothekssaal mit barocken Regalen, großen Archivtruhen (für den raschen Abtransport im Kriegsfall) und Holzfiguren der sieben Tugenden, hatte Dr. Stefan Knoch, stellvertretender Bibliotheksdirektor, seine beeindruckenden Exponate aufgebaut. Handschriften seit dem 5. Jahrhundert wie das Fragment aus dem Geschichtswerk des Livius, das dann später abgeschrieben und die Vorlage makuliert wurde – es sträuben sich die Haare bei dem bloßen Gedanken.
Eine Aufzählung verbietet sich, es sei aber hingewiesen auf die bereits erfolgte Digitalisierung von rund 1000 Exponaten – wahrlich »Bamberger Schätze« und zu Recht zum UNESCO-Dokumentenerbe erklärt. Sehen durften wir davon unter anderem die »Scolia enchiriadis de arte musica ...«, die früheste Handschrift zu mehrstimmiger Musik, entstanden um das Jahr 1000.
Eine Sammlung völlig anderer Art als die heterogene kaiserliche ist die Graphiksammlung von Joseph Heller, in die uns Franziska Ehrl einführte. Sie ist zuständig für deren Erschließung und damit bestens vertraut. Heller, 1798 geborener Bamberger Kaufmannssohn, begann als junger Mann zu sammeln – Grafik von Dürer, Holbein, den beiden Cranachs – und bereits 1821 dazu zu publizieren. Er gilt als einer der Pioniere der Kunstgeschichtsschreibung und es ist ein Glück, dass die (damals noch königliche) Bibliothek nach seinem frühen Tod die wertvolle Bibliothek, den schriftlichen Nachlass und 50 000 Blatt erben konnte. Von seiner Manie, so viele Abzüge wie möglich zu sammeln, profitiert heute die Wissenschaft – und wir konnten zum Beispiel einen Einblick in die Datierung von Drucken erhalten.
Fototermin im Rosengarten
Nachdem es am späten Donnerstagnachmittag aufgeklart war, trug Joachim Siener sein Kamerastativ in den barocken Rosengarten der Neuen Residenz und bat die Teilnehmer zum Fototermin in ein lauschiges Eck über den Dächern der Stadt – die meisten folgten der Einladung und ließen sich porträtieren, mit windzerzausten Haare und in die Sonne blinzelnd. Sieners aktuelles Projekt nimmt das von 1985 auf, als er während der Stuttgarter Antiquariatsmesse Porträtaufnahmen von Ausstellern anfertigte; im Januar 2016 wurden daraus eine Ausstellung und eine Publikation »Der Antiquar lässt sich fotografieren«.
Robert Schoisengeier als fotografischer Seminarchronist hat seinerseits eine ganz Reihe der Porträtsituationen aufgenommen – das mag ein hübsches Doublefeature ergeben.
Ein Freitag in Schweinfurt
Alle waren pünktlich auf der Schranne zur Abfahrt des Busses nach Schweinfurt, neugierig auf das Museum Otto Schäfer mit seiner breiten Sammlung von Druckgrafik und Illustrierten Büchern des 15. bis 20. Jahrhunderts über Einbände bis zu Erstausgaben deutscher Literatur. Der Ruf einer exquisiten Privatsammlung eilt ihr voraus – ebenso Geschichten von notwendig gewordenen Verkäufen. Untergebracht in einem großzügigen Atriumsbau beherbergt das Museum zahlreiche Ausstellungsräume (auch für weitere Sammlungen), einen Lesesaal für die Freihandnutzung von 6000 Titeln und Magazine.
Sage und schreibe sechs Themenvorträge hatten der Leiter des Museums, Georg Drescher, und Dr. Rudolf Kreutner, Kustos der Sammlung Rückert bei der Stadt Schweinfurt und Geschäftsführer der Rückert-Gesellschaft, vorbereitet. So wechselten die beiden Gruppen nicht nur ständig die Räume, sondern segelten durch Welten und Epochen, dass es einem recht schwindelig werden konnte.
Georg Drescher stellte die Sammlerpersönlichkeit Otto Schäfer (1912–2000) – ein »Jäger nach Unikaten« vor, führte »Vom Narrenschiff zur Proportionslehre« durch die Dürer-Sammlung (was sich ideal zu dem Gehörten des Vortags fügte), gab einen Einblick in die Geschichte der Einbandgestaltung und legte zur Anschauung eine Vielzahl von Exponaten aus sechs Jahrhunderten bereit. Kein Wunder, dass angesichts dieses Füllhorns der Zeitplan durcheinandergeriet …
Rudolf Kreutners Lebensthema ist »der Weltpoet« Friedrich Rückert, seit fast zwanzig Jahren ist er (zunächst mit Hans Wollschläger) Herausgeber der historisch-kritischen Rückert-Ausgabe, der »Schweinfurter Edition« mit inzwischen 14 erschienenen Bänden.
Entsprechend kenntnisreich und temperamentvoll brachte er uns dessen Leben und Werk nahe, diesen Privatgelehrten, der 44 Sprachen und 25 Schriftsysteme kannte, den Koran und andere orientalische Schriften übersetzte, sich aber mehr als Dichter verstand und so mindestens mit seinen »Kindertodtenliedern« in die Literaturgeschichte einging.
Unter dem Motto »O sehet her! die allerliebsten Dingerchen« war Kreutners zweiter Vortrag den Almanachen gewidmet. Statt deren spannende Kulturgeschichte wiederzugeben, hier nur ein Hinweis auf eine vielleicht nützliche Bibliographie der deutschen Almanache und Taschenbücher von 1770 bis 1870: www.musenalm.de. Zum Abschluss des Nachmittags in Schweinfurt gab es dann von ihm noch eine »Wurzelbehandlung«, eine Geschichtsstunde über das Deutschtum, den an die deutsche Sprache und Literatur gekoppelten Nationalismus des 19. Jahrhunderts.
Powerpoint und Exklusivschau
Nach diesem Schweinfurter Feuerwerk, dem am Abend in Bamberg wieder ein deftiges fränkisches Essen und vielfach lange kollegiale Gespräche (schließlich ein wesentlicher Wohlfühl-Faktor des Seminars) folgten, schien der Samstagmorgen zunächst ein wenig der leichten Ermüdung entgegen zu kommen, denn die beiden Würzburger Wissenschaftlerinnen Dr. Susanne Rischpler und Angelika Pabel hatten Powerpoint-Präsentationen vorbereitet. Um illuminierte Handschriften des 15. Jahrhunderts ging es zum einen, genauer um den figürlichen Buchschmuck, seine Technik und Verbreitung in den Werkstätten Mitteleuropas – Susanne Rischpler dokumentierte auf einer Landkarte die Vernetzung der Stifte durch reitende Boten. Angelika Pabels Thema sind frühneuzeitliche Einbände, deren Werkstätten und Besonderheiten. Im Bibliothekssaal war sie dann mit den Originalen in der Hand erst wirklich in ihrem Element.
Ein wahres Highlight gab es abschließend mit der Führung durch die Sonderausstellung zu den illuminierten Handschriften, die – so Bibliotheksdirektorin Bettina Wagner in ihrer morgendlichen Begrüßung – extra für die Antiquare an diesem 214. Geburtstag der Staatsbibliothek noch einmal aufgebaut worden war. Angesichts dieser wahrhaft leuchtenden Fleuronnée-Initialen und kolorierten Holzschnitte konnte einem die Freude und Sammellust an / von Inkunabeln und Handschriften schon deutlich werden. Die Mühe und Sorgfalt, die die Mitarbeiterinnen der Staatsbibliothek für unseren Besuch aufgewandt haben, hat sich gelohnt und sei noch einmal sehr bedankt.
Hoffmann und Wollschläger
Ohne diese beiden Gestalten geht es natürlich nicht: E. T. A. Hoffmann, der zwar nur knapp fünf, aber wichtige Jahre in Bamberg verbrachte, und Hans Wollschläger, der ein halbes Jahrhundert hier lebte, arbeitete und 2007 starb.
Hoffmann hatte sich als arbeitslos gewordener Jurist für die Stelle des Musikdirektors beworben und kam am 1. September 1808 mit seiner jungen Ehefrau ans Bamberger Theater, konnte dort allerdings nicht richtig Fuß fassen und musste für seinen kargen Lebensunterhalt Gesangstunden geben. Anhand von Gegenständen – Bildnissen, Noten, Autographen – und deren mit witzigen Anekdoten gespickten Erwerbungsgeschichten gelang es Professor Dr. Bernhard Schemmel, dem Vorsitzenden der E. T. A. Hoffmann-Gesellschaft, Momente im Leben und Werk des Multitalents vorzustellen. Vielleicht bekam der eine oder die andere Lust, im »Kater Murr« zu blättern oder wenigstens »Nussknacker und Mausekönig« zu lesen, oder wie die Berichterstatterin, vor der Abreise noch rasch das sehenswerte E. T. A. Hoffmann-Haus zu besuchen.
Nachdem Hermann Wiedenroth mit der ihm eigenen Verve einleitend von seiner Bekanntschaft, ja zeitweise engen Freundschaft zu Hans Wollschläger berichtet hatte – datierend aus der Arno Schmidt-Gesellschaft und der gemeinsam herausgegebenen Karl-May-Ausgabe – hatte der junge Germanist Nico Prelog es nicht mehr leicht, das Publikum für literaturwissenschaftliche Details von Wollschlägers Lebenswerk »Herzgewächse oder Der Fall Adams« zu erwärmen. Eine gut bestückte Vitrine bot den an Wollschläger Interessierten eine Menge Anschauungsmaterial und erinnerte auch an den genialen Übersetzer des »Ulysses«.
Laterna magica
Eine schöne Alternative zu einer Stadtführung war der Besuch des Schattentheaters, der »eine theatrale Reise durch die 1000-jährige Geschichte der Stadt Bamberg« versprach – einen bequemen Rundgang im Sitzen. Wobei das abendliche Ausruhen beim Wohlfühlen weniger ins Gewicht fiel, als die Vorstellung, wie eine dieser zahllosen Touristengruppen, die hinter ihren Fähnchen hochhaltenden Führern hertrotteten, durch die Straßen zu laufen.
Im historischen Ambiente der kleinen Katharinenkapelle auf dem Domberg, möglicherweise im ältesten Raum der Stadt, präsentierte Norbert Götz seine ungewöhnliche Performance »Licht und Schatten in Bamberg«, mit vergleichsweise bescheidener Technik und wenigen Accessoires. Auf dem Tisch ein großformatiges Buch, das sich effektvoll von Epoche zu Epoche umblättern lasst, charakteristischen Bamberger Gebäuden aus Pappe und Scheinwerfern, die dramatische Silhouetten davon auf die beiden Leinwände zaubern. Einige Musik- oder Videoeinspielungen untermalen die Erzählung, die von der Bistumsgründung um 1000 bis heute die wesentlichen Geschehnisse darstellt. Faszinierend ist eher das Wie als das Was dieses Schau – der unwiderstehliche Charme einer Art Laterna magica.
Gewissermaßen als Pausenprogramm gab es zwischendurch eine Probe des »aechten Schlenkerla Rauchbiers«, an dem wir aber zuvor alle schon genippt oder gerochen hatten.
Sagen – sammeln, suchen, sichern
Das Antiquariat Lorang, direkt beim Alten Rathaus in bester Geschäftslage, hatten wohl die meisten bereits an einem der Vortage besucht und mehr oder weniger intensiv gestöbert. Und erfreut die ungewöhnlich langen Öffnungszeiten bemerkt: in der Sommersaison sieben Tage die Woche. Trotzdem fanden Inhaber Bob Lorang mit Frau und Mitarbeiter Ulrich Simon Zeit für abendliche Gespräche mit den Kollegen.
Doch nicht in den sieben Räumen des Ladengeschäfts, sondern in der Beletage des gegenüberliegenden Eiscafés, ging es an diesem sonnigen Sonntagmorgen um eine eher düstere Sparte: die Sagen.
Der Bamberger Historiker und Sprachwissenschaftler Dr. Joachim Andraschke, der ein «Institut für ostfränkische Namensforschung, Genealogie und Landeskunde« betreibt, präsentierte als Sammler eine Auswahl seiner Bücher und als Feldforscher einige Sagen der Umgebung, nicht ohne einen Überblick über das Genre und dessen Erforschung zu geben. Am interessantesten war sein Werkstattbericht, wie er mit einem Fragenkatalog zu alten Leuten geht und sich ihre Sagenüberlieferungen erzählen lässt, diese akustisch aufzeichnet, um sie möglichst authentisch zu bewahren. Die eingangs von ihm genannte Definition der Sagen im Unterschied zu Märchen, nämlich dass sie außer der notwendigen Ortsgebundenheit von den Erzählern und vom Publikum als wahr angenommen werden, bestätigte sich bei diesen Hörproben. Und fast jeder von uns ZuhörerInnen erinnerte sich an dieses oder jenes Sagenmotiv und einen damit zusammenhängenden Aberglauben.
Buntpapiere – in Theorie und Praxis
Karolinenstraße 1 und Karolinenstraße 18 – so unterschiedlich können Antiquariate sein.
Dort bei Lorang 50 000 Titel auf 200 Quadratmetern mit einladenden Bücherkästen und Postkartenständern vor dem Eingang, hier, bei Zipprich eine schwarze Tür, hinter der sich nach Voranmeldung das beeindruckende Treppenhaus eines Palazzo öffnet – es wurde zum Schauplatz des Gruppenfotos.
Seit dem letzten Jahr residiert das Antiquariat Dieter Zipprich, vormals in München, mit »schönen und wertvollen Bücher« und dem Schwerpunkt 17. und 18. Jahrhundert, Geschichte, Landeskunde, Theologie in Bamberg, ebenfalls die an das Antiquariat angegliederte Buntpapierwerkstatt von Ulrike Eleonore Grießmayr. Es ist eine ideale Symbiose, auch an diesem Sonntagmorgen.
Dieter Zipprich gab einen Abriss über die Geschichte des Buntpapiers – also nachträglich verschöntes, veredeltes Rohpapier – von der Tunkpapiertechnik in China und die japanischen Papiere, die als Hintergrund für Kalligraphien verwendet wurden, über die im 16. / 17. Jahrhundert nach Europa eingewanderten »türkischen Papiere«, die Marmorpapiere, bis zu den Kleisterpapieren der Herrnhuter, die Brokatpapiere aus dem Augsburger Raum.
Die Verwendung von Buntpapieren für Einbände (die der Insel-Bücherei sind allen bekannt) und Vorsätze kam zur Sprache, für die Auskleidung von Möbeln und Schatullen oder sogar als Tapete in einem ganzen Theater, dem der Frau von Stein in Großkochberg. Dieter Zipprich zeigte begeisternd schöne Beispiele, aber fast noch mehr beeindruckte die Vorführung von Ulrike Eleonore Grießmayr, die das Marmorieren und die Herstellung von Kleisterpapier zeigte. Ihre Liebe zum Material, zu den Mustern und Ornamenten, teilte sich unmittelbar mit.
Bei Getränken und liebevoll dekorierten Canapees, die das Ehepaar Grießmayr-Zipprich bereit gestellt hatte, konnte man das Gesehene noch einmal Revue passieren lassen, den Organisatoren dankend applaudieren und sich herzlich verabschieden.
Alle waren sich einig: Bamberg wäre eine weitere Reise wert und für das nächste Fortbildungsseminar – wahrscheinlich in Norddeutschland – sollte man eine Anmeldung nicht versäumen.
Fotos: © Robert Schoisengeier
Weitere Fotos vom Seminar in Bamberg finden Sier → hier.
Ein »echtes Feuerwerk« schwärmt ein Antiquar, sei dieses Seminar gewesen, und sicher werden die anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmer diese Begeisterung teilen: Regina Kurz, Hermann Wiedenroth und Eberhard Köstler (der leider verhindert war) hatten ein überreiches Programm zusammengestellt. Manchem war es fast zu vollgepackt, denn die Dome und Domschätze von Quedlinburg und Halberstadt hätte man zu gern auch besichtigt und so noch mehr von der »Pracht des Mittelalters am Harz« erlebt. Aber eine knapp viertägige Studienreise – denn zu einer solchen wurde das 46. Seminar in Wolfenbüttel – kann vieles nur anreißen und anregen.
Der vielbeschworene »Wohlfühlfaktor« erreichte ungeahnte Höhen, wozu nicht zuletzt das spätsommerliche Wetter und die gemeinsame Unterbringung im Parkhotel beitrugen Ein Frühstück auf der Terrasse in der Morgensonne machte eine fehlende Bar durchaus wett und es fanden sich selbst im gastronomisch etwas unterversorgten Fachwerkstädtchen genügend Orte für den nächtlichen Absacker.
Wir sind die Kultur
Hauptschauplatz der Fortbildung war die Bibliotheca Augusta, Zentrum des aus neun Gebäuden bestehenden Bibliotheksquartiers unweit des Wolfenbütteler Schlosses. Leibnizhaus und Lessinghaus, nach diesen und den beiden wichtigen, im 20. Jahrhundert hier agierenden Bibliotheksleitern Erhart Kästner und Paul Raabe benannte Straßen und Plätze weisen auf den Stellenwert der Herzog August Bibliothek hin – »wir sind hier die Kultur« heißt es selbstbewusst. Die 160 Angestellten sowie rund 200 Stipendiaten und Studiengäste im Jahr werden gewiss auch als Wirtschaftsfaktor wahrgenommen; in der Szene ist der Ortsname Wolfenbüttel das Synonym für die Bibliothek wie Marbach für das Deutsche Literaturarchiv. Diese beiden Einrichtungen bilden zusammen mit Weimar einen Verbund, der durch Forschungsprojekte und Ausstellungen größere Aufmerksamkeit auf die Sammlungen lenken und so der Forschung Impulse geben soll.
Zum ersten Mal in der Augusteer-Halle zu stehen, ist ein wirkliches Erlebnis. Hermann Wiedenroth fand die richtigen Worte: Ein »magischer Ort« sei es, »diese Aura« entführe in »eine andere, herrliche Welt«. Vermutlich können sich auch weniger buchaffine Menschen als Antiquare dieser Aura nicht entziehen.
Nach der Begrüßung durch den neuen Direktor Prof. Peter Burschel erfuhren wir einiges zur Geschichte, die hier kurz erinnert sei.
Achtes Weltwunder in Wolfenbüttel
Die Geburtsstunde, beziehungsweise der Gründungsakt wird auf 1572 datiert, als Herzog Julius eine »Liberey-Ordnung« für den ersten Bibliothekar erließ, doch bereits zwanzig Jahre vorher hatte er mit der Erwerbung von Büchern für seine Sammlung begonnen. Anders als sein Vater Heinrich der Jüngere favorisierte er den Protestantismus, führte die Reformation ein und (sagen wir es drastisch) plünderte die Klöster um ihn interessierende Handschriften. Die Universität Helmstedt erhielt bei ihrer Gründung seine auf 4300 Bände angewachsene Bibliothek; die Rückführung des größten Teils der Bestände geschah im 19. und frühen 20. Jahrhundert.
Kein direkter Nachkomme von Julius, aber ein Nachfolger im Geiste war Herzog August der Jüngere (1579–1666), der erst ab 1635 als Herzog zu Braunschweig-Lüneburg und Fürst von Braunschweig-Wolfenbüttel regierte. Doch schon zuvor in Hitzacker hatte er eine Büchersammlung angelegt, die er 1644 in 55 Kisten nach Wolfenbüttel transportieren ließ.
Er entwickelte selbst eine Systematik nach zwanzig Sachgruppen, erdachte Signaturen, beschriftete die Pergamenteinbände eigenhändig und ordnete die Bände platzsparend nach Größe. Selbst den Katalog hat er selbst geführt, noch heute sind diese voluminösen Verzeichnisse auf dem Bücherrad zu sehen.
Nie kaufte er eine geschlossene Sammlung, sondern wählte mittels Agenten Einzeltitel aus, bekam allerdings auch viel geschenkt, so von Johannes Kepler oder Athanasius Kircher.
Seine Bibliothek war mit 135 000 Handschriften und Drucken seinerzeit die größte nördlich der Alpen und galt als ein Weltwunder.
In seinem Testament verfügte August, dass die Sammlung, die der Öffentlichkeit schon zu seinen Lebzeiten zugänglich war, unverändert zusammenbleiben und von gelehrten Männern geleitet werden sollte. Da sie bis heute geschlossen aufgestellt ist, gibt sie ein Bild des 17. Jahrhunderts, zumal sie neben den hehren Wissenschaften auch Flug- und Alltagsschriften, somit Dokumente der Zeitgeschichte enthält.
Die Bibliothekare Leibniz, Lessing, Kästner und Raabe
Zu Beginn des 18. Jahrhunderts – Gottfried Wilhelm Leibniz war damals Bibliothekar – wurde durch Hermann Korb ein neues Gebäude mit prächtigem Kuppelsaal errichtet, in dem dann später Gotthold Ephraim Lessing arbeitete. Ein Jahrhundert nach Lessings Tod, 1881, wurde die baufällig gewordene Bibliothek durch ein neues prunkvolles Gebäude ersetzt, das nach Umbauten in den 1960er- und 70er Jahren bis heute beeindruckt.
Berühmte Bibliothekare waren Erhart Kästner von 1950 bis 1968 und danach Paul Raabe bis 1992. Unter seiner Ägide wurde die Bibliothek zu einer internationalen Forschungs- und Studienstätte für europäische Kulturgeschichte ausgebaut.
Demnächst ist die Sanierung wegen Brandschutzauflagen geplant, die großformatigen Schätze der Augusteer-Halle müssen dafür in das soeben fertig gestellte Neue Magazin umziehen. Wir hatten die Gelegenheit, diesen Neubau mit seinen noch leeren Rollregalanlagen zu besichtigen und von Almuth Corbach Details zur Unterbringung von 21 Kilometern Buchbestand und 150 Gemälden in den drei Etagen zu erfahren, daneben alles über Klimatisierung und Feuerschutz.
Mehr als anderthalb Tage hätten wir gebraucht, um auch nur oberflächliche Blicke in alle zur »HAB« gehörenden Gebäude zu werfen, in denen die Archiv-, Verwaltungs-, Arbeits-, Veranstaltungsräume, die Katalog- und Leihzentren, die Restaurierungswerkstätten etc. untergebracht sind.
Allerdings fühlte man sich schon in der großen Halle der Bibliotheca Augusta mit ihren elegant in Pergament und Schweinsleder gekleideten Buchreihen, den Galerien und Geländern unter der hohen Kuppeldecke ein bisschen wie in Borges’ labyrinthischer »Bibliothek von Babel« …
In tiefer gelegenen Kabinetten sind Globen und Landkarten zu sehen, außerdem eine Sammlung von Künstlerbüchern des 20. Jahrhunderts (Kästners Lieblingssammelgebiet) mit Wechselausstellungen, derzeit über 30 Jahre Zusammenarbeit der Künstlerinnen Uta Schneider und Ulrike Stolz (usus): »buch.räume.sprach.bilder«.
Ein Raum ist dem Typografen Hermann Zapf gewidmet, dessen Nachlass in Wolfenbüttel liegt, und über den Dr. Nikolaus Weichselbaumer einen der anschaulichsten Vorträge hielt. Wer sich einst über den Zeichensatz der Zapf Dingbats als Zugabe zum ersten Apple-Computer amüsiert hatte, konnte über diesen Tausendsassa nur staunen: Zapf war Kalligraph mit gestochener Handschrift, hat als Buchgestalter die meisten Preise für das schöne Buch abgesahnt, (oft in Zusammenarbeit mit seiner Frau Gudrun) über 200 Schriften entwickelt und sich als einer der ersten Schriftgestalter mit Computer-Typografie befasst.
Astronomie, Astrologie, Alchemie
Dr. Petra Feuerstein-Herz, vielen Antiquaren schon persönlich bekannt, betreut seit einem Vierteljahrhundert die Sammlung alter Drucke – zu Recht als »Sammlung Feuerstein« bekannt –, berichtete über Hintergründe der Bestandsergänzungen, erntete Zustimmung für ihre Bemerkung, dass inzwischen beim Erwerb mehr als früher auf die Einbände und die Provenienz Wert gelegt würde, und zeigte einige ihrer Schätze aus den Gebieten Naturwissenschaft und Alchemie.
Beeindruckend ist dann immer, Preziosen in Augenschein zu nehmen wie etwa Leonhard Thurneyssers Archidoxa, ein großformatiges Buch in Form eines Astrolabiums mit Planetentafeln, eine Art frühes Pop-up, oder die »Rudolfinischen Tafeln« zu den Planetenkonstellationen mit einer Widmung Johannes Keplers für Herzog August von 1627, und zu erfahren, dass beide zusammen in Tübingen bei Nestlin studiert hatten.
Für Astronomie, Astrologie, vor allem für Alchemie ist Wolfenbüttel ein Kompetenzzentrum, das zeigte jüngst auch eine Ausstellung »Goldenes Wissen – Substanzen, Synthesen – Symbole« ein Thema, über das man auch gern mehr erfahren hätte.
Pracht des Mittelalters
Dr. Christian Heitzmann präsentierte parallel einen Teil der Handschriftensammlung, die aus 12000 Stücken (2700 aus dem Mittelalter) besteht, davon sind bereits etwa 1000 digitalisiert, etwa auch eine »Faust«-Handschrift aus den 1580er Jahren, also zeitgleich mit den ersten Drucken entstanden, die von Herzog August angekauft, aber nicht mehr katalogisiert wurde, sie landete später unter Extravagantes.
In Vertretung der Kuratorin Patrizia Carmassi führte Christian Heitzmann zu Beginn des zweiten Seminartages durch die derzeitige Wechselausstellung, die dem »Retter der Antike« Marquard Gude (1635–1689) gewidmet ist. Als junger Mann konnte Gude in Begleitung eines reichen Holländers auf Kavalierstour durch Frankreich und Italien gehen und dort beginnen, mehr als 10 000 Handschriften und Drucke klassischer Autoren zu sammeln und philologisch zu bearbeiten. Die meisten mittelalterlichen Handschriften aus seiner Sammlung wurden auf Anregung des damaligen Wolfenbütteler Bibliothekars Gottfried Wilhelm Leibniz 1710 durch Herzog Anton Ulrich von Braunschweig-Lüneburg erworben. Bis Januar 2017 ist die beeindruckende Ausstellung in der Augusteer-Halle noch zu sehen, mit Drucken, Inkunabeln, Briefen, Porträts, griechischen und lateinischen Handschriften, darunter dem ältesten Text der Herzog August Bibliothek, ein Ovid-Fragment aus dem 5. Jahrhundert.
Kupferstichkabinett online
Der Verzeichnung der frühneuzeitlichen Grafikbestände im »Virtuellen Kupferstichkabinett« war der Vortrag von Judith Talles gewidmet. Das Digitalisierungsprojekt realisiert die Herzog August Bibliothek in Kooperation mit dem Herzog Anton Ulrich Museum in Braunschweig, um repräsentative Teile ihre jeweiligen Grafiksammlungen – Druckgrafik bis 1800 – zusammenzuführen, rund 50 000 Blätter sind bereits digitalisiert und können mit Abbildungen und Beschreibungen über eine Suchmaske aufgefunden werden. Erweitert und modifiziert wird das Virtuelle Kupferstichkabinett durch die aktuellen Projekte Kupferstichkabinett online und Virtuelles Zeichnungskabinett, gefördert vom Land Niedersachsen beziehungsweise der DFG. Für Antiquare vielleicht nicht unbedingt so überraschend wie für Laien sind thematisch in große Bände gebundene oder in Buchdeckel eingeklebte Grafiken und leere Einbände, aus denen alle Blätter entnommen wurden. Immer wieder schweiften die Augen die Galerien entlang und es verwundert nicht, dass hier gelegentlich ganz zufällig Schätze gefunden werden.
Zum Beispiel Bände aus den Büchersammlungen der Augustiner-Chorfrauen in den bei Braunschweig gelegenen Stiften Steterburg und Heinigen, die nach der Reformation nach Wolfenbüttel kamen, 1572 inventarisiert. Einen Blick auf Psalter und Lehrschriften, Beutelbücher und Lesesteine gewährte Dr. Britta-Juliane Kruse in ihrer Power-Point-Präsentation, gern hätte man mehr über die Ausbildung der Frauen an den Stiftsschulen, den Gebrauch der Bücher und überhaupt den Alltag der Chorfrauen erfahren.
Mit der ihm eigenen Verve und gewohnt reich an Anekdoten war Hermann Wiedenroths Vorstellung der Einband-Sammlung von Jürgen Eyssen. Die, mit privaten Mitteln entstanden, seit 1995 in Wolfenbüttel beheimatet ist – bibliografiert wurde sie von Wiedenroth, daher seine intime Kenntnis. Jürgen Eyssen, Jahrgang 1922, war seit 1963 leitender Direktor der Stadtbibliothek Hannover, publizierte über »Buchkunst in Deutschland vom Jugendstil zum Malerbuch«, schätzte aber nichts so sehr wie Meistereinbände, die teilweise von ihm bekannten Buchbindern für ihn angefertigt wurden; »Deutsche Handwerkskunst vom Feinsten«, schwärmte Wiedenroth. Es lag wohl hauptsächlich an der nachmittäglichen Temperatur im Bibelsaal und allgemeiner Ermüdung nach den vielen Eindrücken des Tages, dass der Begeisterungsfunke nicht mehr ganz so übersprang.
Das Abendessen im Bayrischen Hof ließ uns mit einem speziellen niedersächsischen Charme Bekanntschaft machen und die Stunden danach mit den hochgeklappten Bürgersteigen einer Kleinstadt.
Harzreise zu Klopstock, Feininger und Gleim
Für den Samstag standen Ausflüge nach Quedlinburg, seit kurzem Weltkulturerbe, und Halberstadt auf dem Programm, mithin eine Busfahrt am Harz entlang mit Blick auf »Vater Brocken«.
»Wer wird nicht einen Klopstock loben? / Doch wird ihn jeder lesen? – Nein. / Wir wollen weniger erhoben / und fleißiger gelesen sein.« Lessings Sinngedicht trifft den Punkt, so ergeht es vielen Klassikern und besonders dem Dichter des »Messias«.
Die Führung durch die extra für uns aus dem Ruhestand zurückgekehrte Kuratorin des Klopstockhauses war beispielhaft: Sie konnte uns ihren Protagonisten mit genau der richtigen Dosierung aus Fakten über Leben und Werk, Einordnung in das Gedankengut und die Literatur seiner Epoche, Rezeptionsgeschichte sowie hübsche Details wie seine Liebe zum »Schrittschuh« (!), seine Idee einer neuen Rechtschreibung oder des Vertriebs der »Gelehrtenrepublik« auf Subskriptionsbasis nahe bringen.
Im Klopstockhaus, wo der Dichter 1724 als ältestes von 17 Kindern geboren wurde und das seit 1889 Museum ist, wird außerdem an die erste deutsche promovierte Ärztin Dorothea Christiana Erxleben, den Pädagogen Johann Christoph Friedrich GutsMuths und den Begründer der wissenschaftlichen Geografie Carl Ritter erinnert. In diesem wunderbar altmodischen Museum mit enormen Mengen an Flachware könnte man viele Stunden verbringen.
Aber nebenan wartete die Lyonel-Feininger-Galerie, die zum Bauhaus gehört, bereits zur DDR-Zeit bestand und deren Basis die Sammlung seines Freundes Klumpp war. Feiningers Karikaturen, seine Landschaftsskizzen, Schiffsmodelle und Holzspielzeug (für seine Kinder) war sicher vielen unserer Gruppe vorher unbekannt gewesen.
Wie auch Johann Wilhelm Ludwig Gleim, der 1747 als Domsekretär nach Halberstadt kam und in diesem – inzwischen erweiterten Haus in unmittelbarer Nachbarschaft zum Dom – ein Zentrum für seine Bücher- und Gemäldesammlung errichtete. Bekannt wurde er zum einen als »deutscher Anakreon«, zum anderen als Freund, der mit über 500 Korrespondenten in Verkehr stand, so kamen um die 10 000 Briefe zusammen, allein um die 1000 sind von und an »die Karschin« erhalten; ihr Standbild ist übrigens das erste deutsche Dichterdenkmal.
Geprägt von der Idee einer Schule der Humanität schuf er seinen »Tempel der Freundschaft«, bestehend aus Büchern (oft Belegexemplaren), Bildern – über fünfzig Jahre lang ließ er seine Freunde porträtieren und versammelte sie so um sich – und Briefen, zu denen auch Kinderzeichnungen oder etwa eine Verlobungskarte von Jean Paul gehören. Als Multiplikator wurde er von dem durchaus geschäftstüchtigen Schiller zur Verbreitung seiner »Horen« benutzt. Vortrag, Führung und Präsentation von Preziosen wie Lessings »Kleinigkeiten« durch die Direktorin Dr. Ute Pott und ihren Mitarbeiter Dr. Reimar Lacher waren lehrreich, spannend und vergnüglich.
Der Samstag endete in Wolfenbüttel, allerdings noch nicht zum Essen und Entspannen, denn zuvor gab es zwei Stadtführungen, eine auf Lessings, eine auf anderer Literaten Spuren. Dies war der einzige Programmpunkt, an dem nicht die geniale Idee der Gruppenteilung in »Rote« und »Grüne« griff, durch die alle 45 TeilnehmerInnen in den Genuss aller Vorträge, Führungen und Präsentationen kamen. Deshalb kann die Berichterstatterin nur Lessing vorstellen, der 1770 als Bibliothekar nach Wolfenbüttel kam, weil er seine Bücher dorthin verkauft hatte, »Emilia Galotti« zu Ende und den «Nathan« schrieb (eine Statue im Park erinnert daran), nach der Heirat mit Eva König ins sogenannte Lessinghaus, heute Museum, zog. Sie starb 1778 im Kindbett, Lessing überlebte sie nur um drei Jahre. Im Stadtbild sind im wesentlichen Häuser seiner Aufenthalte und seiner Bekannten zu sehen, aber das gemächliche Flanieren offenbarte noch einmal andere Blicke auf die uns nach anderthalb Tagen doch schon recht bekannten Straßen und Plätze.
Zuguterletzt Goethe und Bruno Cassirer
Der Sonntagvormittag lieferte noch einmal Überraschungen – nicht nur, dass der Bus pünktlichst abfuhr und die Verspäteten sehen konnten, wie sie nach Braunschweig kamen … Doch dann trafen sich alle in dem sehenswerten Antiquariat »Buch und Kunst« von Michael Kröger, alle Müdigkeit war angesichts des Sortiments verflogen, der Kaufrausch brach sich Bahn, Stapel wurden aufgehäuft und eingetütet.
Bis zum Vortrag von Dr. Dieter Strauss gerufen wurde, der (einst fürs Goethe-Institut in Brasilien tätig) frei und launig über »Goethes Wanderjahre in Lateinamerika und der Südsee« sprach, das heißt mit ungewöhnlichem Zugriff den Einfluss der Reiseliteratur auf Goethe, seine Münz- und Büchersammlungen dazu, seine Liebe zu fremden Völkern, seine Traumreisen und die Spuren der Welt in seinem Werk thematisierte.
Den krönenden Abschluss lieferte Dr. Markus Brandis mit einem erhellenden Vortrag über den Verlag von Bruno Cassirer in der Zeit des Nationalsozialismus. Bis 1938 blieb Cassirer in Deutschland, überzeugt vom Guten und der deutschen Kultur. Zwischen 1933 und 1936 publizierte er noch 38 Titel, teils von ausländischen, teils von kritischen, sogar von jüdischen Autoren; darunter waren Wolfgang Koeppen und Marie Luise Kaschnitz, die er entdeckte hatte, oder Karel Capek, dessen Gespräche mit Masaryk, ein extrem provokantes Werk, Cassirer verlegte. Sein Idealismus, man könne die Welt mit Büchern und Kultur verbessern, war ein schöner Gedanke und passend zum Schluss dieses Seminars.
Im schönen Garten des Auktionshauses Klittich-Pfankuch fand das Seminar 2016 mit eigens Gekochtem und Gebackenen einen herzlichen Abschluss, nicht ohne noch einmal auf die perfekte Organisation und Durchführung durch Regina Kurz und Hermann Wiedenroth anzustoßen.
Im nächsten Jahr geht es nach Bamberg und eine zahlreiche Teilnahme ist bereits garantiert.
Fotos: © Robert Schoisengeier
Weitere Fotos vom Seminar in Wolfenbüttel finden Sier → hier.
Frankfurt am Main als Ort des 45. Seminars für Antiquare schien im Vorfeld nicht so attraktiv zu sein wie früher Weimar, Wien oder Köln. Viele kennen die Stadt von der Buchmesse her, und sie bietet sicher nicht denselben Freizeitwert und »Wohlfühlfaktor« wie Konstanz im vergangenen Jahr. Auf den ersten Blick erschien manchem vielleicht auch das Programm mit Deutscher Nationalbibliothek und Goethehaus etwas trocken und bildungsbeflissen. Doch die 33 Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die aus allen Teilen Deutschlands zwischen Aachen und Fürstenberg / Havel, Kiel und München sowie aus Amsterdam, Innsbruck, Zürich und Wien angereist waren, haben es nicht bereut – auf den Fotos von Robert Schoisengeier jedenfalls sieht man durchweg interessierte, gutgelaunte Gesichter ...
Um es gleich zu sagen: das Seminar für Antiquare – vom Fortbildungsausschuss um Regina Kurz, Eberhard Koestler und Hermann Wiedenroth für den Verband Deutscher Antiquare 2014 zum 44. Mal ausgerichtet - ist keine „Rare Book School“ wie man sie aus den USA und neuerdings auch aus England kennt. In der Rare Book School an der University of Virginia, beim Colorado Antiquarian Book Seminar oder beim britischen Ableger in York drücken die Antiquare die Schulbank, setzen sich für eine Woche in ein Klassenzimmer (einer Universität) und erlernen die Grundbegriffe des Antiquariatsbuchhandels: Aufnahmetechniken, Bibliografieren, Katalogerstellung ...
Rund um Weimar und dessen berühmte Bewohner oder Gäste drehte sich das 43. Seminar für Antiquare vom 13. bis 15. September 2013. Das Seminar, organisiert vom Verband Deutscher Antiquare in Kooperation mit der Genossenschaft der Internet-Antiquare (GIAQ), der Vereinigung der Buchantiquare und Kupferstichhändler in der Schweiz (VEBUKU) und des Verbands der Antiquare Österreichs (VAO), war ein voller Erfolg!
Provenienz und Provenienzforschung, rechtliche Grundlagen der Restitution, Papier und Typographie bildeten die Schwerpunkte des Seminars 2012, das auf Einladung des Auktionshauses Venator & Hanstein in Köln stattfand. Das attraktive und vielseitige Programm führte die Teilnehmer unter anderem ins Ungers-Archiv für Architekturwissenschaften (UAA e.V.), ins Käthe-Kollwitz-Museum, in die Erzbischöfliche Diözesan- und Dombibliothek sowie zur Sammlung von Professor Dr. Reiner Speck.
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