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15. November 2023
Am 3. Oktober 2023 verstarb Godebert M. Reiss, seit 2014 Ehrenmitglied des Verbandes Deutscher Antiquare e.V. Mit Godebert Reiss verliert das deutsche Antiquariat eine seine profiliertesten Persönlichkeiten.
Nach dem Studium volontierte er ab 1960 in einem Düsseldorfer Antiquariat. 1966 wurde er Teilhaber des Braunschweiger Auktionshauses Wolfgang Brandes oHG und trat kurz danach in den Verband Deutscher Antiquare ein. Als Gründer und Kopf des 1970 etablierten Auktionshauses Reiss (später Reiss & Auvermann, heute Reiss & Sohn) war er einer der maßgeblichen Gestalter des deutschen Auktionshandels des 20. Jahrhunderts. 1977 übernahm er die Redaktion des Gemeinschaftskataloges und dann engagierte er sich von 1978 bis 1981 und erneut von 1986 bis 1989 als Vorsitzender des Vorstands des VdA für die Belange der Branche. Für kurze Zeit war er zudem Vizepräsident der ILAB. Auch in späteren Jahren blieb er dem VdA im Hintergrund eng verbunden, unter anderem stellte er im Ombudsrat des Verbandes in Zusammenarbeit mit weiteren verdienten Antiquaren seine enorme Erfahrung zur Verfügung.
2011 beeindruckte Godebert M. Reiss beim Fortbildungsseminar für Antiquare in München mit einem Vortrag zum Thema »Bilder Bilder Bilder«. Er hatte zahlreiche Kostbarkeiten aus seiner Sammlung mitgebracht – Atlanten, Tafelwerke und seltene Reisebeschreibungen, die er den Teilnehmern vorlegen konnte und dadurch ein lebhaftes Gesprächsforum eröffnete.
Durch drei Veröffentlichungen hat Godebert M. Reiss das Arbeiten und Denken eines gestandenen und hochgradig erfolgreichen Antiquars der Öffentlichkeit in interessanter und zugleich unterhaltsamer Weise mitgeteilt:
– Von Büchern und Büchernarren. Erinnerungen eines Antiquars. Edition Vincent Klink, 2016.
– 50 Weisse Elefanten. Alte Bücher und frühe Landkarten, die meine Welt bewegten. Frankfurt, M. Bramann, 2018.
– Verband Deutscher Antiquare. Persönliche Erinnerungen an seine Geschichte bis zum Jahr 2000. Edition Vincent Klink, 2022.
Seine gewichtige Stimme wird dem Verband und dem Antiquariatshandel fehlen, seine Verdienste und das Gedenken an einen Großen unserer Zunft werden bleiben.
Die folgende persönliche Erinnerung von Detlev Auvermann erscheint in der Zeitschrift »Aus dem Antiquariat«, wir bedanken uns für die Abdruckerlaubnis bei
Dr. Björn Biester.
Zur Erinnerung an Godebert Michael Reiß (1937–2023)
In den 1960er Jahren war ich in geschäftlicher Partnerschaft mit dem Antiquar Georg Sauer. Unsere Geschäftsräume befanden sich in der Westendstraße in Frankfurt am Main. Die Firma war eingetragen als Wissenschaftliches Antiquariat Sauer und Auvermann. Eines Tages erschien der Auktionator Wolfgang Brandes aus Braunschweig in Begleitung eines schlaksigen jungen Mitarbeiters, den Brandes als Juniorpartner vorstellte. Sein Name: Godebert Michael Reiß.
Die Herren Brandes und Sauer zogen sich zu einem Gespräch zurück. Die beiden ›Benjamine‹ sollten nach geeignetem Auktionsmaterial Ausschau halten. Beim Gang durch die Regale entdeckten wir einen Ankauf, den ich bei dem Antiquar Ludwig Rosenthal-Dürr in München getätigt hatte, eine umfangreiche Sammlung Russica. Reiß hatte an der noch nicht katalogisierten Sammlung großes Interesse; Ergebnis: Brandes übernahm die Bücher für die Auktion.
Dies war der Beginn unserer Bekanntschaft. Nach und nach lernten wir uns näher kennen. Ab und zu gingen wir auch gemeinsam auf Geschäftsreisen.
Die nachfolgenden Jahre brachten Änderungen in der Struktur des Marktes und auch in beiden Firmen. Michael Reiß kündigte seine Beteiligung bei der Firma Brandes in Braunschweig und zog nach Mainz. Dort gründete er 1970 das Auktionshaus Michael G. Reiß. Inzwischen waren für das Antiquariat in Frankfurt die Räumlichkeiten nicht mehr ausreichend. In Glashütten im Taunus wurde ein größeres Gebäude errichtet. Durch die Nähe zu Mainz intensivierten Michael Reiß und ich unsere Kontakte. Mit der Zeit fanden wir heraus, dass wir auch als Partner gut zusammenpassen könnten. Wir wurden Freunde.
Es ergab sich, dass nach wenigen Jahren die Räumlichkeiten in Mainz für eine sich abzeichnende Expansion der Auktionen zu klein waren. Zur gleichen Zeit machte der internationale Ausbau des Antiquariats von Glashütten aus kontinuierlich Fortschritte. Dies wurde Georg Sauer zur Belastung, und er schied auf eigenen Wunsch aus der Firma aus.
In jener Zeit ergab sich aus mehreren Unterredungen mit Michael die Entscheidung zu einer Partnerschaft. Die bestehenden Firmen wurden liquidiert. Es entstanden neu das Auktionshaus Reiß und Auvermann sowie das Antiquariat Auvermann und Reiß. Das war 1974, Startschuss für eine langjährige Freundschaft verbunden mit intensiver Zusammenarbeit in Glashütten. Der Neuanfang war zeitlich günstig. Die Zahl der Auktionskunden mit Interesse an illustrierten Büchern und Kartographie wuchs stetig. Gleichzeitig entstanden eine Anzahl von Neugründungen von Universitäten und Fachhochschulen, womit auch ein steigender Bedarf an aufgelösten Gelehrtenbibliotheken und Spezialsammlungen einherging. Im Rückblick waren es goldene Jahre für Auktionshaus und Antiquariat. Im Übrigen intensivierten wir unsere Auslandskontakte und konnten uns neue Quellen und kollegiale Freundschaften erschließen.
Michael war neben seiner Tätigkeit als Auktionator die Mitarbeit im Vorstand des Verbands Deutscher Antiquare ein besonderes Anliegen. Während seiner Amtszeiten als Vorsitzender hat er sowohl mit Entschiedenheit und Wohlwollen so manches Problem geregelt.
Die expansive Entwicklung beider Firmen erzeugte mitunter Probleme, über deren Lösung die Partner nicht immer einer Meinung waren. Beide wurden älter, ihre Interessen und Ziele veränderten sich. Außerdem stand ein Generationswechsel zur Debatte. Während 1989 mit der Auktion 40 ›Travel and Exploration. Portugal and Spain‹ eine neue internationale Dimension erreicht wurde, zeichnete sich für das wissenschaftliche Antiquariat ein Abschwung ab. Langsam, aber vehement, setzte die Digitalisierung wissenschaftlicher Literatur und Zeitschriften ein. Zunächst suchte ich neue Absatzmärkte. Ein Großbrand in der Bibliothek der Akademie der Wissenschaften zu Leningrad gab 1988 dazu den Anstoß. Ich wurde dort tätig. Es war der Moment der Trennung gekommen. Das Auktionshaus setzte seine Tätigkeit als Reiß & Sohn in Königstein im Taunus fort. Es entstand eine Ruhepause zwischen den früheren Partnern.
Als Michael die körperlichen Anstrengungen langsam zu schaffen machten, hat er sich an den Schreibtisch gesetzt und die mannigfaltigen Erlebnisse aus der langen Zeit seiner Tätigkeit als Antiquar und Auktionator zu Papier gebracht. Er berichtet darüber in seinen Schriften ›Von Büchern und Bücher narren‹ und ›50 weiße Elefanten. Alte Bücher und frühe Landkarten, die meine Welt bewegten‹. Mit diesen Publikationen hat er zweifellos neues Interesse bei Sammlern und jungen Antiquaren erzeugt.
Michael konnte stolz auf sein Werk sein. Er hat zur rechten Zeit das Erbe an seinen Sohn Clemens übertragen. Dieser führt das Auktionshaus in Königstein mit großem Erfolg umsichtig fort.
In den letzten Jahren haben wir unseren freundschaftlichen Kontakt erneuert und die gemeinsamen Jahre durch intensiven Briefwechsel und Telefonate aufgearbeitet.
Ich wünsche Michael, dass er sich im Bücherhimmel seinen Platz erobert. Diesem Wunsch möchte ich mit Worten von Peter Rühmkorf Ausdruck verleihen: »… mir das Paradies schon oft als Lesehimmel ausgemalt: eine weltraumweite Zentralbibliothek, in der wir unsere irdischen Versäumnisse im Müßiggang wieder wettmachen können.« Leb wohl, mein Lieber!
DETLEV AUVERMANN
Geschäftsstelle: Norbert Munsch
Seeblick 1, 56459 Elbingen
Fon +49 (0)6435 909147
Fax +49 (0)6435 909148
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